Weisse Nächte am Schwarzen Meer

Kazantip ist die größte Sause in Osteuropa. Ein wildes Techno-Spektakel à la Love Parade – im Drogenrausch, und das sechs Wochen lang

Sie kommen Sommer für Sommer, zu Tausenden, aus Moskau oder Sankt Petersburg, aus Surgut oder Dnjepropetrowsk, fahren zwei Tage, drei Tage, eine Woche. Vorbei an Tannen und Seen, Städten, Vorstädten, wieder Tannen und Seen, und abends, wenn der Himmel dunkelblau wird in der Dämmerung und sich die ersten Sterne zeigen, die Luft weich und süß ist vom Duft der Birken und die Grillen zirpen, dann ist die Krim, die da draußen liegt und nicht schläft, ein Versprechen.

„Olga, schläfst du schon? Du darfst nicht schlafen, wenn ich dich anschaue.“ Olga liegt still, die Augen geschlossen, es zuckt hinter ihren Lidern, eben ging das Abteil auf, ein Hauch von Hand fuhr über ihre Wangen. Juri, seit vier Tagen ungeduscht, steht neben ihr und schweigt. Wach ist er, überwach, von den Pillen, die er intus hat. 20 Tabletten Ecstasy hat er bei sich versteckt, am besten Platz überhaupt, „unter meinen Eiern – da bin ich noch nie gecheckt worden“. Sonst hat er noch Hasch, Speed, Kokain im Gepäck. Er geht feiern und dealt nebenher, denn wo sie hinfahren, ist es nicht billig.

Juri mit dem Medusenblick. Wenn er redet, grimassiert er wie ein Pantomime, seine Augen glänzen diabolisch. Sie nennen ihn „Capitano“: die zwei Olgas, von denen eine seine ist, Mascha, Marina, Sascha und die anderen zehn, allesamt Studenten zwischen 20 und 27, die meisten aus Sankt Petersburg. Unterwegs zu der Party ihres Lebens. Jeder Jugendliche in Osteuropa kennt sie, jeder muss mindestens einmal dort gewesen sein: Kazantip, im Szenejargon schlicht „Z“. So heißt das Techno-Festival, das jeden Sommer sechs Wochen lang auf der Krim tobt, von Mitte Juli bis Ende August, auf einem Areal, so groß wie acht Fußballfelder. Mehr als die Musik locken Drogen, Flirten, Tanzen, Sex – der russische Spring Break.

Popowka. Halbfertige Häuser links und rechts, keine Türen, keine Dächer, verrammelte Holzbuden, Wohnkästen. Der Ort liegt wie verglüht in der flimmernden Hitze, gräulicher Staub deckt alles zu, die zwei Straßen des Dorfes, das spärliche Gras, den Salzsee. Und die 500 Einwohner. Hier ist es ruhig, kein Lärm, keine Arbeit, bis auf sechs Wochen im Sommer, wenn 130000 Partypilger kommen, die meisten aus Russland, einige aus der Ukraine, wenige aus dem Westen. Es sind Ausgehungerte, die einfallen. Der Winter war lang, die Städte sind grau.

Nicht weit von hier, am Strand, liegt Kazantip. Ein Paralleluniversum hinter Zäunen. Techno-Beats auf der einen, Kühemelken auf der anderen Seite. Die Raver wohnen im Dorf. Mit Rucksack ziehen Juri und die anderen zu Baba Katja, Baba für Babuschka, Oma. Es ist warm, Wäsche hängt zum Trocknen an Leinen. Die Gemeinschaftstische liegen im Schatten von Weinlaub, das sich über den Dächern der Hütten rankt. Die Gäste tragen Fransenjeans und Schlappen, liegen in Hängematten und rauchen. Es könnte auch ein Backpacker-Hostel in Indien sein, zehn Dollar kostet die Nacht. Zu zweit, zu dritt gehen sie in die Kammern, werfen ihre Rucksäcke auf die Betten. Dann setzen sie sich an einen Tisch. Warum sie nach Kazantip kommen? Wegen der Freundschaft, sagen die einen. Wegen der Musik, die anderen. Wegen der Atmosphäre, wirft Mascha ein. Christinka wegen: … Sie spricht zu leise, sie hält einen Teddy an ihre Brust gedrückt, und im Haar steckt eine Prinzessinnenkrone aus Plastik. Sie schlägt die Augen nieder und drückt den Teddy noch fester an sich. „Schau sie dir doch an“, sagt Juri, „sie ist noch ein Mädchen.“ „Ich bin noch Jungfrau“, piepst Christinka, 17 Jahre alt. Es sollte mutig klingen. Sie ist ja hier, um das zu ändern.

Christinka geht noch zur Schule. Sie hat sich die Reise nach Kazantip von den Eltern finanzieren lassen, wie auch Sonja, 20, die Tourismus in Lugansk studiert. Juri, 27, hat Optische Technik studiert, ist dann in die Pornoindustrie gegangen und hat Webcams für die Mädchen installiert, jetzt macht er eine Lehre als Buchhändler. Seine Freundin Olga, 21, studiert Kulturmanagement und jobbt nebenher in einem Laden für Kunsthandwerk. Sie sind das einzige Pärchen der Gruppe, die Übrigen sind Singles.

Die Tage bei Baba Katja beginnen meist mittags gegen eins – nach zwei, drei Stunden Schlaf –, mit einer Vase Wodka, in der ein paar Gurken zum Frühstück schwimmen. Später kommt Whisky dazu, gerührt mit Speed. Danach Bier, vermischt mit einem Brei aus Duschgel und Ecstasy-Tabletten, die sich beim Schmuggeln in den „Bodyfresh“-Flaschen aufgelöst haben. Zwischendurch kiffen sie in einer Rumpelkammer, aus der die Rauschwolken paffen, wenn sie kichernd wieder hinausstürmen. Mit jeder Flasche Wodka wird es bruderseliger, aus Dimitri wird erst Dima, dann Dimuschka, aus Alexandra erst Sascha, dann Schaschinka, auf jede Verniedlichung folgt ein Schwall von Trinksprüchen – auf die Frauen, die Männer, das Leben, man erhebt und setzt sich. Aber die Schweigsamen am Tisch, die vor sich hinglotzen, zeigen auch: Wodka hat kein Geheimnis, er macht nur betrunken. „Wir schlafen, wir betrinken uns, wir schlafen“, sagt Juri. „Aber wir sind keine Alkoholiker.“


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 66. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 66

No. 66Februar / März 2008

Von Dimitri Ladischensky und Jan Windszus

mare-Redakteur Dimitri Ladischensky und der Berliner Fotograf Jan Windszus recherchierten vier Tage und Nächte in Kazantip, tranken viel und schliefen wenig.

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Vita mare-Redakteur Dimitri Ladischensky und der Berliner Fotograf Jan Windszus recherchierten vier Tage und Nächte in Kazantip, tranken viel und schliefen wenig.
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Vita mare-Redakteur Dimitri Ladischensky und der Berliner Fotograf Jan Windszus recherchierten vier Tage und Nächte in Kazantip, tranken viel und schliefen wenig.
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