Was vom Leben übrig bleibt

Ein zurückgelassener Koffer in einer Seemannsmission, darin einige wenige persönliche Gegenstände. Was sagen sie uns über den Verschwundenen? Und was über die ihn Suchenden?

Diese ist die Geschichte eines Mannes, verschwunden ist. Manfred Renninger hat nicht darum gebeten, dass ich ihn suche, vielleicht hat er kein Interesse daran, vielleicht würde er sich darüber freuen, vielleicht ist er tot. Und weil ich es nicht weiß und ihn auch nicht fragen kann, ob ich über ihn schreiben darf, muss ich seinen Namen, seinen Geburtsort, sein Alter aus Datenschutzgründen ändern. Niemand darf in dem, was ich schreibe, die Person erkennen. Wobei ich mir wünschen würde, dass ihn jemand erkennt, jemand vermisst. Das Traurige ist nicht, dass Manfred Renninger verschwunden ist. Das Traurige ist, dass ich der Einzige bin, der nach ihm sucht.

Jedes Jahr kam Manfred Renninger für ein paar Nächte in der Hamburger Seemannsmission am Michel vorbei, eine der 17 Sozialstationen, die die evangelische Kirche in Deutschland für „Gestrandete“ betreibt, für Seeleute, die von Bord gehen, eine Anschlussheuer suchen, Urlaub machen, krank geworden sind oder keine andere feste Adresse in ihrem Leben haben, denn das ist die Seemannsmission am Krayenkamp 5: Jugendherberge, Postsammelstelle, Gepäckaufbewahrung im Keller. Die Seeleute kommen für ein paar Tage, holen ihre Post beim Pförtner ab, gehen in den Keller zu ihrem Gepäck, wechseln Sommer- gegen Winterkleidung oder umgekehrt und steigen aufs nächste Schiff.

Jedes Jahr ging Manfred Renninger die Reihen mit den Koffern, Kartons und Säcken ab, bis er zu seiner Kiste kam, Regal 5, Fach 66, nahm etwas heraus oder tat etwas hinein, verschloss sie wieder, notierte Datum und Uhrzeit auf einem Zettel, den er an die Kiste klebte. Dann lief die Uhr wieder. Ein Jahr, so lange dürfen Seeleute ihre persönlichen Sachen im Keller kostenlos lagern. Wenn sie nach einem Jahr weder abgeholt noch angerührt worden sind, gehen sie in den Besitz der Seemannsmission über.

Der stellvertretende Leiter der Mission Felix Tolle kannte „Manfred“ seit seinem Zivildienst 1999, und die Kiste sei schon vorher da gewesen, schon viele Jahre vor ihm. Er sei ein Einzelgänger gewesen, habe sich von anderen ferngehalten, keinen Besuch bekommen und viel gelesen. Er habe immer ein Einzelzimmer genommen, 16 Euro die Nacht, ohne WC und Dusche. „Er war ein kultivierter Mensch“, sagt Tolle, „kein einfacher Decksmann. Er erzählte viel über Südamerika, über Bolivien, sein Traumland. Er wollte immer mit dem Motorrad die Panamericana fahren, den Highway von Alaska nach Feuerland über die Anden.“

Korrekt sei er gewesen, sehr ordentlich, sehr akkurat, sehr strukturiert. Er habe seine Besuche in Hamburg immer rechtzeitig angekündigt und sich ein Zimmer reservieren lassen. Und er trug in seinem Portemonnaie einen vielfach gefalteten Zettel mit sich, auf dem er sämtliche PIN-Nummern notiert hatte.

Deshalb wunderte sich Felix Tolle, dass Manfred Renninger, der Ordentliche und Regelmäßige, plötzlich nicht mehr kam und auch nicht auf E-Mails reagierte. Das Handy war ausgeschaltet. Die Post, die für ihn einging, von Banken und der Rentenkasse, stapelte sich erst Monate, dann Jahre, und Tolle schickte sie schließlich an die Absender zurück.

Und als Manfred Renninger 2014 sechs Jahre nicht mehr an der Kiste gewesen war, „haben wir uns gesagt: Der kommt nicht mehr“, meint Tolle.

Alle paar Jahre versteigert die Seemannsmission nicht abgeholte Gegenstände, um Platz im Keller zu schaffen. Die olivfarbene Munitionskiste aus Bundeswehrbeständen kam für 120 Euro unter den Hammer. Der Höchstbietende, Dennis Dreves, wollte den Inhalt wegschütten und nur die Kiste behalten, aber dann sah er: „Ein ganzes Leben liegt da vor mir, fein säuberlich verpackt und verstaut. Das kann ich nicht einfach in den Sperrmüll kippen.“ Zumal er gleich ein Bild von dem Menschen hatte: „Die Kiste war perfekt gepackt, alles plan, nichts stand über, nirgends waren Lücken. Das muss ein ganz Ordentlicher sein.“

Menschen treffen, die ihn kannten oder jemanden kennen, der ihn möglicherweise kannte; ich werde vor Häusern stehen, in denen er gewohnt hatte, durch Fenster blicken, aus denen er geschaut hat; ich werde Gegenstände in der Kiste zum Reden bringen wollen, und am Ende werde ich nicht einmal wissen, warum ich das alles getan habe. Hat es mit der Angst zu tun, zu verschwinden wie er? Unbemerkt? Er wird wahrscheinlich nie für tot erklärt werden, weil niemand den Antrag stellt. Als wäre er nie da gewesen. Und dennoch ist er da, es ist seine Privatsphäre, in die ich eindringe, es sind seine Sachen, durch die ich mich wühle. Es ist seine Kiste, die neben meinem Schreibtisch steht. Vielleicht war er in keinem anderen Leben so präsent wie jetzt in meinem.


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mare No. 124

No.124Oktober / November 2017

Von Dimitri Ladischensky und Nele Gülck

Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, war froh, die Kiste nach einem Jahr wieder los zu sein. Wie er schon bei der Abholung bemerkte, als er mit ihr auf der Autobahn liegen blieb und auf den Abschleppdienst wartete: Sie riecht. Schuld sind Papiermilben, die sich in den alten Seiten eingenistet haben.

Nele GülckJahrgang 1979, arbeitet seit ihrem Studium des Kommunikationsdesigns als freie Fotografin in Hamburg. Schon immer faszinieren sie Objekte und was diese über ihre Besitzer erzählen. In ihrer Arbeit Auf ewig hat sie den Hausstand eines Ehepaars, das seit 66 Jahren verheiratet ist und seit 52 Jahren in einem Einfamilienhaus in einer deutschen Kleinstadt lebt, fotografisch katalogisiert.

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Nele GülckJahrgang 1979, arbeitet seit ihrem Studium des Kommunikationsdesigns als freie Fotografin in Hamburg. Schon immer faszinieren sie Objekte und was diese über ihre Besitzer erzählen. In ihrer Arbeit Auf ewig hat sie den Hausstand eines Ehepaars, das seit 66 Jahren verheiratet ist und seit 52 Jahren in einem Einfamilienhaus in einer deutschen Kleinstadt lebt, fotografisch katalogisiert.
Person Von Dimitri Ladischensky und Nele Gülck
Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, war froh, die Kiste nach einem Jahr wieder los zu sein. Wie er schon bei der Abholung bemerkte, als er mit ihr auf der Autobahn liegen blieb und auf den Abschleppdienst wartete: Sie riecht. Schuld sind Papiermilben, die sich in den alten Seiten eingenistet haben.

Nele GülckJahrgang 1979, arbeitet seit ihrem Studium des Kommunikationsdesigns als freie Fotografin in Hamburg. Schon immer faszinieren sie Objekte und was diese über ihre Besitzer erzählen. In ihrer Arbeit Auf ewig hat sie den Hausstand eines Ehepaars, das seit 66 Jahren verheiratet ist und seit 52 Jahren in einem Einfamilienhaus in einer deutschen Kleinstadt lebt, fotografisch katalogisiert.
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