Was kommt hinter dem Horizont?

Die Tochter von Thomas Mann hat den neuen Bericht an den Club of Rome geschrieben. Er erscheint als mare-Buch

Im September erscheint in der Reihe „mare-Buch“ die deutsche Ausgabe des jüngsten Berichtes an den Club of Rome: „Mit den Meeren leben“ von Elisabeth Mann Borgese, ein engagiertes Plädoyer für den Schutz der Ozeane, der persönliche, umweltpolitische und kulturelle Aspekte verbindet.

Mann Borgese, Jahrgang 1918, jüngste Tochter von Thomas Mann, ist Professorin für Seerecht in Halifax, Kanada. Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern des Club of Rome, rief das International Ocean Institute ins Leben und ist Autorin vieler Sach- und Prosabücher.

Wir veröffentlichen ihr Vorwort für dieses Buch und einige Textpassagen.

Ich werde oft gefragt, warum gerade die Beschäftigung mit dem Meer zum Hauptthema meiner Lebensarbeit geworden ist. Ehrlich gesagt, habe ich lange Zeit gar nicht darüber nachgedacht – man tut halt, was man tut. Doch allmählich fühle ich auch selbst den Drang, mir darüber klar zu werden, warum gerade das Meer ...

Und jetzt ist es mir klar.

Zwei Strömungen fließen in mir zusammen.

Eine davon hat ihren Ursprung in meiner frühesten Kindheit. Ich sehe mich noch: Gegen Abend, es war kühl, und ich zitterte ein wenig; teils weil es kühl war, teils aus Erregung. Wir standen am Strand. Ich, etwa fünf Jahre, an der Hand meines Vaters, und mein kleiner Bruder Michael, vierjährig. Wir schauten aufs Meer hinaus – das erste Mal in unserem Leben.

Mein Vater war sehr stolz, uns das Meer zu zeigen. Er war immer sehr stolz auf sein Meer: die Ostsee bei Travemünde. Kurz ehe wir die lange Reise von München ans Meer antraten, erzählte er uns, wie er als kleiner Junge dem neuen Kindermädchen, das aus Sachsen kam, mit Stolz sein Meer gezeigt hatte. Und sie stand da, auf breiten Beinen, schaute hinaus und sagte: „’s is hibsch, aber ich hätt mers hibscher gedacht.“ Das muss eine furchtbare Enttäuschung oder sogar Beleidigung für meinen Vater gewesen sein, die er der Sächsin nie verziehen hat.

Unter keinen Umständen wollte ich ihm eine ähnliche Enttäuschung bereiten! Doch dazu bedurfte es keinerlei Anstrengung, denn ich war einfach benommen vom Anblick des Meeres: seine Farbe, das Plätschern der Wellen, der Salzgeruch – alles war ganz anders als am Starnberger See!

Meine erste Reise ans Meer: Ich taumelte zwischen Erregung und Benommenheit. Zunächst fuhren wir im Schlafwagen nach Berlin. Schon das war ein traumhaftes Erlebnis. Michael und ich lagen uns gegenüber an den beiden Enden des Bettes. Die Mutter über uns, der Vater allein im Coupé nebenan. Ich lag am Fußende, direkt unter dem Fenster, und konnte die Jalousie ein wenig hinaufschieben und den Sternenhimmel sehen, der sich zu bewegen schien. In Berlin durften wir Onkel Peter Pringsheims Laboratorium besuchen, wo er uns „flüssige Luft“ zauberte: Luft, die so kalt war, dass sie zu blauer Flüssigkeit wurde. Wie das Meer, dachte ich. Und als er einen geschmeidigen Gummischlauch hineintauchte, verwandelte sich dieser im Handumdrehen in einen harten Stock; so kalt war das Wasser.

Und dann standen wir auf einmal am Meer und schauten ganz benommen in die Ferne. Was mich am tiefsten beeindruckte, war der Horizont, der sich fest und ungebrochen, wie von einem überdimensionalen Zirkel gezeichnet, von einem Ende des Blickfeldes zum anderen hinzog. „Das ist der Horizont“, erklärte mein Vater.

„Und was ist hinter dem Horizont?“ fragte ich.

„Der Horizont und dahinter wieder der Horizont. Je weiter du hinausruderst, umso weiter zieht sich der Horizont zurück, sodass du immer nur einen Horizont siehst; bis ganz, ganz zuletzt Land in Sicht kommt, und dann ist der Horizont verschwunden. Du kannst ihn dann aber wieder sehen, wenn du dich herumdrehst.“

Ich musste oft über den Horizont nachdenken, und er hatte die unterschiedlichsten Bedeutungen für mich. Als ich etwa zwölf Jahre alt war, schien er mir die Einheit von Zeit und Raum im sich ausdehnenden Universum verständlich und anschaulich zu machen: So, wie man sich in den Raum hinausbewegt, was ja Zeit dauert, so erweitert sich der Horizont des Universums, dachte ich mir, und die Endlichkeit wird zur Unendlichkeit.

Wir fuhren jeden Sommer ans Meer: ans Mittelmeer, nach Ischia und an die Ligurische Küste. An die Ostsee und an die Nordsee, nach Sylt. Lauter unterschiedliche Meere, jedes mit eigenen Farben, eigenen Wellen und eigenem Geruch. Aber alle diese Meere hatten einen Horizont! Und an jedem Strand gab es Sand und Muscheln, mit denen man Burgen bauen und verzieren konnte, in deren Schutz man Ruhe fand. Währenddessen saß mein Vater, seemännisch gekleidet – weiße Hose, blaue Jacke und Kapitänsmütze –, im Strandkorb und schrieb ... Wir Kinder genossen das Leben am Meer. Wir bauten Sandschlösser, Doppeltunnel und Murmelbahnen; tauchten unter den Wellen, gingen in der Dämmerung spazieren, und später, als wir älter waren, galoppierten wir auf ungesattelten Pferden den Strand entlang.

Am Strand sind alle Kinder brav; man kann gar nicht anders. Vielleicht ein früher Hinweis auf den Gedanken, den ich später in diesem Buch entwickeln werde: Das Leben mit dem Meer zwingt uns, anders zu denken; neu zu denken und anders zu handeln.

Es war eine Zauberwelt. Noch heute, wenn ich frühmorgens den Espressosatz aus seinem kleinen wohlgeformten Behälter in das Spülbecken leere, muss ich an die feuchten Sandkuchen denken, die wir damals aus unseren buntlackierten Eimerchen stürzten und am Strand aneinanderreihten.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 16. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 16

No. 16Oktober / November 1999

Von Elisabeth Mann Borgese

Elisabeth Mann Borgese kommentierte in mare No. 5 den Begriff „Freiheit der Meere“ und veröffentlichte in No. 13 einen Essay über den Meeresboden: „Wo tote Materie das Leben gebiert“. Ihr Porträt, Nikolaus Gelpkes „Botschafterin der Meere“, erschien in No.1

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Vita Elisabeth Mann Borgese kommentierte in mare No. 5 den Begriff „Freiheit der Meere“ und veröffentlichte in No. 13 einen Essay über den Meeresboden: „Wo tote Materie das Leben gebiert“. Ihr Porträt, Nikolaus Gelpkes „Botschafterin der Meere“, erschien in No.1
Person Von Elisabeth Mann Borgese
Vita Elisabeth Mann Borgese kommentierte in mare No. 5 den Begriff „Freiheit der Meere“ und veröffentlichte in No. 13 einen Essay über den Meeresboden: „Wo tote Materie das Leben gebiert“. Ihr Porträt, Nikolaus Gelpkes „Botschafterin der Meere“, erschien in No.1
Person Von Elisabeth Mann Borgese