Warum schwimmt ein Schiff?

Das Maritiem Museum in Rotterdam schafft es, dass sogar Erwachsene auf dem Fußboden krabbeln

Plötzlich krieche ich auf Knien über den Teppich. Maria, mein Leih- und Versuchskind, ist hier verschwunden. Erst habe ich sie noch vergnügt kichern gehört, dann war es still. Ich sehe mich vorsichtig um. Nein, kein Kind. Niemand, der mich beobachtet. Ich krabbele in den niedrigen, geheimnisvoll blau leuchtenden Gang. Rechts: ein Bullauge. Ein Schwarm Fische zieht vorbei. Im nächsten Fenster entdecke ich Plastikkrabben und Schneckenhäuser, dann zwei bleiche Füße einer Schaufensterpuppe und – einen glitzernden Goldschatz. Jetzt kichere ich vor Vergnügen. Was für ein prächtiges Museum! Aber halt, von vorne.

Das Maritiem Museum Prins Hendrik in Rotterdam ist das älteste Schifffahrtsmuseum in den Niederlanden. 1400 Modelle, 300 Gemälde, 5000 Zeichnungen und Drucke, 80000 Fotos, 2000 Land- und Seekarten, 300 Atlanten, dazu Navigationsinstrumente, Globen, Knotenbretter, Flaschenschiffe, Tabakdosen, Uniformen – kurz: fast alles, was zur Seefahrt dazugehört, ist hier verwahrt. Und doch stellt das Museum die landläufige Vorstellung von dem, was ein Seefahrtsmuseum zu sein hat, auf den Kopf. „Interaktion“ heißt das Zauberwort. Die niederländischen Museumsmacher schwören zur Zeit darauf. Im Kopf der Gäste wirkt das Wunder. Sie sind gefordert, selbst zu denken.

In einem ganz normalen Schifffahrtsmuseum kommt gleich hinter der Kasse der Einbaum oder doch zumindest der älteste Kahn der Sammlung. Daneben hängen dann ein paar ganz normale Worte zur Geschichte. Und bei Prins Hendrik? Da steht ein Glaswürfel am Anfang, knapp ein Meter mal ein Meter mal ein Meter. Da hinein hat jemand ein wunderhübsches Fährmannshäuschen gebastelt, mit einer Kinderschaukel, die schwingt, als wäre Maria gerade heruntergesprungen, und einem Kahn am Steg. Dazu ein paar Worte: Die erste Aufgabe der Seefahrt sei, Menschen und Güter über das Wasser zu transportieren. Es folgen sechs weitere Würfel, darin: ein Kahn mit Kanone. Ein Rettungsboot am Strand mit Fahne auf Halbmast. Ein Fischerboot in wabernden grünen Latexwellen. Ein schmuckes Ruderboot fürs Vergnügen. Ein Forschungsschiff.

„Vademecum“ nennen die Ausstellungsmacher dieses Vorwort, zu deutsch: „geh mit mir“, und laden ein, sich ganz grundsätzlich dem Thema Seefahrt zu nähern. Ihr Leitfaden stellt im Folgenden die Elemente der Seefahrt vor, die Schiffe selbst, deren Antrieb, das Navigieren, die Schifffahrtsstraßen, Unternehmen, Besatzung, Häfen und so weiter. Die Fülle des Materials bekommt so klare Begriffe und Strukturen. Das klingt abstrakt. Aber es ist so einfach und nett präsentiert, dass alle bereit sind zu folgen. Sogar Maria mit ihren sechs Jahren.

Hand in Hand gehen wir weiter. Das Gebäude, Mitte der 80er Jahre von W. G. Quist in klaren geometrischen Strukturen entworfen, gibt den Blick frei auf den Hafen der Stadt und das „Maritiem Buitenmuseum“ vor der Tür, eine Art schwimmendes Freilichtmuseum. Aber dorthin gehen wir ein anderes Mal. Hier drinnen führt eine schräge Rampe an den Fenstern vorbei hoch zu den Ausstellungsräumen. Hier können wir wählen. Nicht ein Rundgang wird geboten, sondern einzelne, in sich geschlossene Themenbereiche. Manche sind einige Jahre lang, andere nur kurz mal zu sehen. Die Abteilung „Ich taufe dich… Schiffbau in den Niederlanden“ zum Beispiel soll bis ins nächste Jahrtausend hier bleiben, und auch der Komplex „Menschen an Bord – auf See im 17. und 18. Jahrhundert“ ist langfristig angelegt. Ein „Kaleidoskop von Impressionen“ soll dort zu sehen sein.

Wir treten ein. Ein Seemann mit Pfeife im Mund, einem Papagei auf der Faust und einem Äffchen im Gefolge begrüßt uns: ein ostindischer Bootsgeselle, erklärt die Legende und verrät, dass das Bild aus einem Kostümbuch stammt. Wie hat er gelebt und gearbeitet? In einzelnen Kapiteln wird das Leben auf See illustriert: die Enge an Bord, das Risiko, nicht lebend in die Heimat zurückzukehren, die Hoffnung auf eine glänzende Karriere vom Schiffsjungen zum Admiral und die Realität, die hieß, dass nur die wenigsten den Aufstieg schafften. Wenige, aber dafür oft sehr wertvolle und einzigartige Stücke sind in den Vitrinen zu entdecken. Das Wort „entdecken“ ist dabei bewusst gewählt: Es ist eine Wonne, bis ins Detail zu schauen. Ein Stich sei stellvertretend für so viele beschrieben: Er zeigt eine Gruppe langbeiniger Offiziere bei der Navigation. Sie stehen an Deck eines mittleren Schiffes. Einer misst gerade die Höhe der Sonne, ein zweiter hält den Winkel im Lot, fünf(!) hantieren mit Zirkel und Karte und scheinen im heftigen Disput. Ganz offensichtlich sind sie der Sache nicht mächtig. Das schönste aber ist: An Backbord steigt schon ein Monster aus den Fluten und bleckt gierig die Zähne. Ein Unglück scheint kaum mehr zu vermeiden. Ein Bild wie ein Comic, gestochen im Jahr 1602.

Neben dem historischen Material findet sich immer auch eine zweite Ebene: die spielerische, kreative. Ein riesiges Memory-Spiel zum Beispiel lädt ein, die Besitztümer der diversen Besatzungsmitglieder zu sortieren. Dem Koch seine Erbsen, dem Matrosen das Messer und Gold für den Kapitän. Klar, dass Maria das gefällt. Aber langsam fängt sie jetzt an zu nölen. „Professor Plons“, hat ihr nämlich jemand gesteckt, sei das allerbeste in diesem Haus. Und den hat sie noch nirgends gesehen.

Wir wollen also im Sauseschritt weiter und kommen doch nicht richtig voran. Das Museum steckt voller Überraschungen, und das jedesmal wieder. Dabei bedient sich das Museum der Leidenschaften seiner Besucher. So war kürzlich ein ganzer großer Saal den Sammlern gewidmet, jenen Verrückten, die von irgend etwas alles wollen. Sie durften in professionell gestalteten Vitrinen ihre Schätze präsentieren. Hier war die Geschichte vom Einbaum bis zum U-Boot dann doch zu finden: als winzige Modelle von einem, der viele hundert davon hat. Ein anderer hatte Leuchttürme beigesteuert: Modellbaubögen aus Papier mit Seezeichen aus aller Welt. Eine dritte brachte ihr Porzellan ins Museum, die Kaffeetassen berühmter Reedereien. Und so fort. Da soll man hetzen? Aber Maria zerrt und drängelt. Na gut. Professor Plons. Zum Glück ist er ganz hinten.

Tür auf, Tür zu, dies ist Kinderland. Wir landen im Führerstand eines U-Boots. Schon mal darüber nachgedacht, wie ein Kapitän von unter Wasser rausguckt? Hier kann man das selbst ausprobieren. „Professor Plons“ steht für ein riesiges Kinderlabor, ein Ort, um Dinge zu begreifen. Hoch oben auf dem Dachgarten, mit Blick über den Hafen, sind Kräne und Wasserbecken und Pumpstationen und Windgebläse installiert. Hier gibt es Antworten auf Fragen: Warum schwimmt ein Schiff? Wie funktioniert ein Flaschenzug? Weshalb stürzt eine Brücke nicht ein? Nichts wird theoretisch erklärt. Alles muss man praktisch erproben. Und zwischendrin gibt es die schönsten Räume zum Spielen. Den geheimnisvoll blau erleuchteten Unterwassergang zum Beispiel. Aber Maria ist nicht lange darin geblieben. Ich weiß jetzt, warum sie so still war. Sie will einfach nicht, dass ich sie finde. Denn heimlich hatte sie in einer Ecke eine Matrosenmütze gefunden, dazu eine Schwimmweste mit Kragen. Jetzt sitzt sie still in einem Boot, das gar nicht schaukelt, und reist an fremde Ufer. Erwachsene, hat sie beschlossen, haben bei diesem Spiel nichts zu suchen. Die Museumsaufsicht nickt mir zu. Nebenan, sagt sie, hängen noch Bilder. Seefahrt und Kunst: Auch das gehört zusammen – zumindest in diesem Museum.


Maritiem Museum Prins Hendrik
Leuvehaven 1, Rotterdam; Telefon: 0031/413 26 80
Geöffnet Dienstag bis Sonnabend 10 bis 17 Uhr,
sonn- und feiertags 11 bis 17 Uhr. 1. Januar,
Ostersonntag und 1. Weihnachtstag geschlossen

mare No. 5

No. 5Dezember / Januar 1997

Von Cornelia Gerlach und Rien Zilvold

Cornelia Gerlach, Jahrgang 1960, freie Autorin in Berlin. Hier lebe und arbeite ich im Herzen der Stadt. Wenn ich nicht in der Welt unterwegs bin. Aber das bin ich gerne und viel. Mali und Madagaskar, Kap Horn und Kalkutta, der Suekanal in Ägypten und das Irrawaddy-Delta in Birma sind nur ein paar der vielen Stationen der letzten Jahre. Ich schreibe Reportagen und Porträts vor allem für Brigitte, aber auch für brandeins, Die Zeit und mare. Und wann immer es geht bin ich auf dem Wasser - mit dem Segelkanu in Papua Neuguinea, mit der Alt-H-Jolle auf dem Wannsee, mit dem Spitzgatter der Familie in der dänischen Südsee oder mit Freundinnen auf einer Yacht in den Kornaten.

Rien Zilvold, geboren 1957, lebt und arbeitet als Fotograf in Gorinchem in den Niederlanden.

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Vita Cornelia Gerlach, Jahrgang 1960, freie Autorin in Berlin. Hier lebe und arbeite ich im Herzen der Stadt. Wenn ich nicht in der Welt unterwegs bin. Aber das bin ich gerne und viel. Mali und Madagaskar, Kap Horn und Kalkutta, der Suekanal in Ägypten und das Irrawaddy-Delta in Birma sind nur ein paar der vielen Stationen der letzten Jahre. Ich schreibe Reportagen und Porträts vor allem für Brigitte, aber auch für brandeins, Die Zeit und mare. Und wann immer es geht bin ich auf dem Wasser - mit dem Segelkanu in Papua Neuguinea, mit der Alt-H-Jolle auf dem Wannsee, mit dem Spitzgatter der Familie in der dänischen Südsee oder mit Freundinnen auf einer Yacht in den Kornaten.

Rien Zilvold, geboren 1957, lebt und arbeitet als Fotograf in Gorinchem in den Niederlanden.
Person Von Cornelia Gerlach und Rien Zilvold
Vita Cornelia Gerlach, Jahrgang 1960, freie Autorin in Berlin. Hier lebe und arbeite ich im Herzen der Stadt. Wenn ich nicht in der Welt unterwegs bin. Aber das bin ich gerne und viel. Mali und Madagaskar, Kap Horn und Kalkutta, der Suekanal in Ägypten und das Irrawaddy-Delta in Birma sind nur ein paar der vielen Stationen der letzten Jahre. Ich schreibe Reportagen und Porträts vor allem für Brigitte, aber auch für brandeins, Die Zeit und mare. Und wann immer es geht bin ich auf dem Wasser - mit dem Segelkanu in Papua Neuguinea, mit der Alt-H-Jolle auf dem Wannsee, mit dem Spitzgatter der Familie in der dänischen Südsee oder mit Freundinnen auf einer Yacht in den Kornaten.

Rien Zilvold, geboren 1957, lebt und arbeitet als Fotograf in Gorinchem in den Niederlanden.
Person Von Cornelia Gerlach und Rien Zilvold