Warten auf die schwarzen Wellen

In Pitong Gatang bei Manila leben Kinder gefährlich. Das Dorf steht auf wackligen Stelzen über dem Meer

Kein Sturmsignal

Selbst das Tageslicht scheint kaum durchzukommen, so eng ist das Labyrinth der Sperrholzgassen. Auch die Älteren im Stelzendorf Pitong Gatang gleiten katzenartig aneinander vorbei, passen auf, um sich ja keinen Raum zu stehlen. Mary Rose hat Glück. Würde es regnen, dürfte sie den Weg zur Vorschule gar nicht allein gehen - wenn überhaupt Unterricht wäre. „Zu glitschig auf den Brettersteigen", sagt die Sechsjährige in bestimmendem Tonfall, der ihr heiseres Stimmchen kontrastiert. Doch auch ohne Regen gilt: Immer den Blick nach unten richten, wenn man oben bleiben will. Um nicht ins Dunkle zu stürzen. Auf dem schummrigen Wasser schlingern Plastiktüten, als seien es Geister.

In den verschachtelten Lebenssphären, zwischen den Tunneln, Erkern und Gängen, sitzen die Gerüche aufeinander. Ölschwaden einer Bootswinde reiben sich am Dunst unverkaufter Makrelen. Dann wieder drückt die tangige Brise gegen den Bratenduft von Essighuhn. Der Gestank von Rattenurin attackiert Seifenduft, während der Ehemann einer Schwangeren auf dem Steg Wäsche schrubbt.

Seit vier Jahrzehnten ist Pitong Gatang ein Provisorium - Schicksal aller Armensiedlungen. Anfang der sechziger Jahre brachen Fischer mit ihren Frauen und Kindern von den südlichen Inseln Samar und Leyte zur Hauptstadt auf, um dort ein besseres Leben zu führen. In den Moloch Manila brachten sie ihr Gemeinwesen mit, das Barangay. Benannt nach dem Langboot, mit dem Malaien einst die Philippinen besiedelten, an Bord jeweils eine Großfamilie samt Oberhaupt. Ein gewählter Barangay-Captain steht auch heute noch an der Spitze der Dorfclans von Pitong Gatang.

Und noch immer kommen Siedler. Doch nicht in Booten, sondern in Bussen und überfüllten Fähren. Es sind auch keine Malaien, die Manila besiedeln, sondern Filipinos, eine viertel Million jedes Jahr. Darunter jene Küstenbewohner von Samar und Leyte, die ihren Verwandten nach Pitong Gatang folgen. Babys auf dem Arm und ihr Inselleben im Kopf, hoffen sie auf eine lichtere Zukunft. Wollen hinaus in die Bucht von Manila, fischen und grün schillernde Tahong-Muscheln sammeln.

Pitong Gatang steht für Nahrung. Pitong Gatang bedeutet „Sieben Scheffel Reis". Pitong Gatang ist eine zusammengezimmerte Plattform für 7000 Hungrige, kaum größer als ein Fußballfeld. Stockig riecht es, wenn „Mom" Susan, die Vorschullehrerin, morgens den ein-zigen Raum der Sacred Heart School aufschließt. Wasserflecken kriechen die Stützpfeiler hoch. Auf der beliebten Pritsche am Eingang lümmeln sich ein paar Vorschüler. „One, two, three, four, five ...", sie trumpfen auf mit ihrem Englisch. Drinnen stellt Mom Susan die Stühlchen in einen Kreis. Mom Susan - alle Kinder setzen vertrauensvoll „Mama" vor ihren Namen, auch Mary Rose. Neugierig späht sie mit den anderen durchs Klassenfenster.

Doch heute geht es nicht um das Wetter. Sonnig, bewölkt, windig: Die Bezeichnungen auf den Wandtafeln haben sich Mary Rose längst eingeprägt. Besonders das Wort „stürmisch". Doppelt so groß wie die anderen Felder, zeigt es finstere Taifunwolken. Nein, heute erzählt Mom Susan vom Ozean im Bett. Ein Titel, der zum Dorf passt. Wer hinhört, vernimmt leises Schwappen unter den Spanplatten.

Aufmerksam lauschen Mary Rose und die anderen Kinder der Erzählung von Troy, der nachts träumt, er sei Kapitän. Doch wenn im Traum das Wasser über die Bordwand klatscht, wird es auch nass im Bett. Und das mögen Troys Geschwister gar nicht, die mit ihm darin schlafen. Ja, Troy pinkelt ein, er ist ein Bettnässer.

Die Geschichte wird zum Frage-und-Antwort-Spiel. Die Kinder versetzen sich in die Hauptfigur. So erfährt Mom Susan auf subtile Weise, wer oft einnässt, wer also zu den vernachlässigten Kindern gehört. Mary Rose schüttelt den Kopf - ins Bett machen, sie doch nicht! „Ich pinkle bei uns zu Haus immer durch die Planken", brüstet sich frech ihr Stuhlnachbar. Viele jedoch schweigen. Zumindest lernen alle am Ende im Chor eine Faustregel: Vor dem Einschlafen wenig trinken und rasch noch mal aufs Klo.

Aber es gibt keine Toiletten in Pitong Gatang. Das Meer ist das Klo. Gern juxen die Bewohner über „Flying Saucers", die „fliegenden Untertassen": Plastiktüten, Exkremente rein und, wusch, aus dem Fenster. Die Blödelei überspielt den peinlichen Geruch aus der Brühe, die sich träge am Ufer überschlägt.

Nach der Vorschule würde Mary Rose am liebsten auf das Barahan steigen. Das Kanuhaus auf der Meeresseite hat kein Dach und keine Wände, damit der Taifun nirgends angreifen kann. Doch das hohe Gestell des Barahan haben ihr die Eltern verboten. Sie darf nicht zu den Jungs, die sich an den Bambusstreben hinaufschwingen. Dabei mag Mary Rose den Moment, wenn sie aus der dämmrigen Enge auf das Barahan tritt. Mit einem Schlag leuchtet die Welt. An einem Tag wie heute glitzert die Bucht bis zum Horizont. Auch die Gesichter der heimgekehrten Fischer leuchten. Sie haben Zuckerrohrschnaps getrunken, „Devil & Angel". Bunten Vögeln gleich schweben ihre Boote mit den zwei Auslegern emporgezogen an den Seilen.

Weit draußen liegen die Muschelfelder. Aus dem funkelnden Wasser der Bucht ragen zahllose Pfähle, an denen die Tahong-Muscheln wachsen. Davon leben die meisten in Pitong Gatang. Ein kleiner Junge hält sein Flugzeug hoch und fliegt hinaus in die friedliche Abendsonne - der Rumpf ein Stück Styropor, die Flügel ein Paar Zahnstocher.


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mare No. 26

No. 26Juni / Juli 2001

Von Thomas Worm und Nicolas Cornet

Thomas Worm, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor in Berlin und schreibt Reisereportagen. Zuletzt veröffentlichte er in mare No. 24 seinen Bericht über den „Krieg um Liegen".

Nicolas Cornet, Jahrgang 1963, ist freier Fotograf und lebt nach 10 Jahren Ho-Tschi-Minh-Stadt jetzt in Paris. Dies ist seine erste Veröffentlichung in mare.

Die Bewohner von Pitong Gatang nahmen die Reporter freundlich auf. Nach einer Woche aber wurden sie misstrauisch: So lange bleiben Journalisten sonst nie. Waren sie womöglich doch Agenten der Behörden? Konnte man Menschen trauen, die tagelang freiwillig in ihr Dorf kamen? Für Worm und Cornet hieß es: Zeit zur Abreise

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Vita Thomas Worm, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor in Berlin und schreibt Reisereportagen. Zuletzt veröffentlichte er in mare No. 24 seinen Bericht über den „Krieg um Liegen".

Nicolas Cornet, Jahrgang 1963, ist freier Fotograf und lebt nach 10 Jahren Ho-Tschi-Minh-Stadt jetzt in Paris. Dies ist seine erste Veröffentlichung in mare.

Die Bewohner von Pitong Gatang nahmen die Reporter freundlich auf. Nach einer Woche aber wurden sie misstrauisch: So lange bleiben Journalisten sonst nie. Waren sie womöglich doch Agenten der Behörden? Konnte man Menschen trauen, die tagelang freiwillig in ihr Dorf kamen? Für Worm und Cornet hieß es: Zeit zur Abreise
Person Von Thomas Worm und Nicolas Cornet
Vita Thomas Worm, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor in Berlin und schreibt Reisereportagen. Zuletzt veröffentlichte er in mare No. 24 seinen Bericht über den „Krieg um Liegen".

Nicolas Cornet, Jahrgang 1963, ist freier Fotograf und lebt nach 10 Jahren Ho-Tschi-Minh-Stadt jetzt in Paris. Dies ist seine erste Veröffentlichung in mare.

Die Bewohner von Pitong Gatang nahmen die Reporter freundlich auf. Nach einer Woche aber wurden sie misstrauisch: So lange bleiben Journalisten sonst nie. Waren sie womöglich doch Agenten der Behörden? Konnte man Menschen trauen, die tagelang freiwillig in ihr Dorf kamen? Für Worm und Cornet hieß es: Zeit zur Abreise
Person Von Thomas Worm und Nicolas Cornet