Von Seefahrern und Schreibtischrittern

Wer entdeckt hier wen? Europas Lust an der Selbstkritik

„Der junge Alexander eroberte Indien. / Er allein? / Cäsar schlug die Gallier. / Hatte er
nicht wenigstens einen Koch bei sich? / Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte /
Untergegangen war. Weinte sonst niemand? / (...) Alle zehn Jahre ein großer Mann. /
Wer bezahlte die Spesen? // So viele Berichte. So viele Fragen." Bert Brecht

Wer das historische Pech hatte, in jenem Land aufzuwachsen, in dem Brecht nicht etwa modisch-lakonisch Bert, sondern korrekt-gravitätisch Bertolt genannt wurde, wird sich nicht nur an jenes (Schul-)Gedicht erinnern, sondern auch an die dazugehörige Langspielplatte. Im Gedächtnis geblieben ist da vor allem etwas äußerst Peinvolles - das hysterisch fistelnde Falsett der Berliner-Ensemble-Diva Käthe Reichel oder das bedeutsam rollende R des singenden Spanienkämpfers Ernst Busch schon bei der Rezitation des Gedichttitels: Frragen eines lesenden Arrrbeiterrrs. Die Wichtigtuerei. Der dröhnende, bereits in der Modulation mitschwingende Anspruch auf Deutungsmacht. Diese alle emanzipatorische Urintention zugrunde richtende Propagandistenschlauheit, es all den bourgeoisen Geschichtsschreibern nun einmal richtig zu zeigen. Konformistische Antworten anstatt verstörende Fragen.
Und was hätte all dies nun mit James Cook zu tun?

Cook hatte, der Kalauer sei an dieser Stelle erlaubt, nicht nur einen Koch, sondern auf seiner ersten Südseereise auch einen einheimischen Landeskenner dabei, der bereits zuvor die meisten der über 70 Inseln des tahitianischen Archipels selbst bereist hatte. Sein Name war Tupaia, geboren 1725 auf Raiatea. Im Juni 1769 an Bord der „Endeavour" gekommen, konnten die westlichen Entdecker dank seines Wissens nicht nur Nahrungsmittel und Frischwasser gegen mitgebrachte Metallnägel tauschen, sondern waren auch bald schon in der Lage, die Region um Tahiti zu kartografieren. Bei der Landung in Neuseeland im Oktober des gleichen Jahres konnte sich Tupaia zwar mit den Maori sprachlich mehr oder weniger verständigen, musste diesmal jedoch die Botschaft übermitteln, dass man an solcherart Metall kein Interesse habe, wohl aber an Waffen. Nach einigem blutigen Hin und Her, bei dem zuerst Tupaias junger Diener Taiata entführt und bei seiner Befreiung mehrere Maori erschossen wurden, gelangte man schließlich doch noch an Trinkwasser und konnte weitersegeln. Im April des kommenden Jahres konnte sich bei der Landung in Australien - der Name stammt übrigens nicht von Cook, sondern von Ptolemäus, der im ersten Jahrhundert n. Chr. über eine „terra australis incognita" spekuliert hatte - Tupaia dann mit den Aborigines nicht einmal mehr verbal verständigen. Am 10. Oktober 1770 landete die „Endeavour" in Batavia, wo Anfang November dann Taiata und Tupaia starben, vermutlich an einer Ruhrinfektion.

Bemerkenswert an dieser Geschichte sind in unserem Zusammenhang vor allem zwei Tatsachen, deren Banalität nicht täuschen sollte: Tahitianer verhielten sich anders als Maori, diese wiederum anders als Aborigines. Und: Cooks einheimischer Zuarbeiter besaß selbst einen Diener. So what?, möchte man fragen. Allein, so fragte kaum jemand in den Jahrzehnten seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Interessanterweise handelte es sich hierbei nicht etwa um koloniale Arroganz, sondern im Gegenteil um Skrupel. Beeinflusst von den erfolgreichen Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien, gerieten auch im Westen reaktionäre Selbstgewissheiten mehr und mehr in die verdiente Defensive. Stattdessen wurden spätestens mit Ende der sechziger Jahre durch Minderheitenengagement, universitäre „Post-Colonial Studies" sowie einer damit zeitgleich wachsenden Political Correctness die bisherigen Geschichtsinterpretationen bis quasi in den letzten Winkel auf ihren (tatsächlichen oder vermeintlichen) machtideologischen Gehalt hin abgeklopft - was sich freilich nicht nur im Fall eines gewissen James C. von der bitter notwendigen Selbstkritik bald zu einer Art Schauprozess ohne Verteidiger wandeln sollte.

Cook the killer. (Wie viele Einheimische in vielleicht vermeidbaren Scharmützeln getötet?) Cook, dessen angemaßter Titel „Entdecker" lediglich eurozentristische Ignoranz verriet. (Waren die weit verstreuten Inseln um Tahiti nicht bereits zu Beginn der christlichen Zeitrechnung bevölkert gewesen, und zwar von Menschen, die über beträchtliche Seefahrerkünste verfügt haben mussten? Hatten nicht im 14. Jahrhundert die Polynesier jenes später „Neuseeland" genannte Territorium entdeckt?) Cook, Büttel des Imperialismus. (Gab es etwa keinen Zusammenhang zwischen seinen „Entdeckungen" und der Schnelligkeit, mit der Neuseeland und Australien der englischen Krone einverleibt wurden, während man sich den Tahiti- und Neukaledonien-Kuchen leider mit den Franzosen teilen musste?)


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mare No. 55

No. 55April / Mai 2006

Ein Essay von Marko Martin

Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als freier Schriftsteller und Publizist in Berlin. Zuletzt erschien Sommer 1990 (Deutsche Verlagsanstalt München). Regelmäßig unterwegs in den Ländern der so genannten Dritten Welt, wird sein empirisches Misstrauen gegenüber Ideologen jeglicher Couleur von Mal zu Mal größer. In mare No. 54 schrieb er über die Kulturgeschichte des Salzes.

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Vita Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als freier Schriftsteller und Publizist in Berlin. Zuletzt erschien Sommer 1990 (Deutsche Verlagsanstalt München). Regelmäßig unterwegs in den Ländern der so genannten Dritten Welt, wird sein empirisches Misstrauen gegenüber Ideologen jeglicher Couleur von Mal zu Mal größer. In mare No. 54 schrieb er über die Kulturgeschichte des Salzes.
Person Ein Essay von Marko Martin
Vita Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als freier Schriftsteller und Publizist in Berlin. Zuletzt erschien Sommer 1990 (Deutsche Verlagsanstalt München). Regelmäßig unterwegs in den Ländern der so genannten Dritten Welt, wird sein empirisches Misstrauen gegenüber Ideologen jeglicher Couleur von Mal zu Mal größer. In mare No. 54 schrieb er über die Kulturgeschichte des Salzes.
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