Von Schlägern und Schlagern

Ein Seemann wird zum wichtigsten Promoter des deutschen Box­sports – und schreibt nebenher Liedtexte fürs kollektive Gedächtnis

Walter Neusel hat es schwer erwischt, schon in der zweiten Runde. Blut läuft ihm aus der Platzwunde an der linken Augenbraue ins Gesicht. Auch die Lippe ist aufgeplatzt. Gleich nach dem Gong zur neunten Runde nimmt der Ringrichter Neusel aus dem Kampf. „Der blonde Tiger aus Wanne-Eickel“ verliert gegen Max Schmeling durch technischen K. o. am 26. August 1934 in Lokstedt bei Hamburg. Der ehemalige Weltmeister Schmeling wird von der Menge euphorisch gefeiert: Jubel brandet auf, Hüte fliegen in die Luft, ein Zuschauer stürmt den Ring und hebt Schmeling hoch.

Zusammengebracht hat die beiden Schwergewichte ein Mann namens Walter Rothenburg, der Veranstalter dieses „nationalen Großkampftags“. Rothenburg, 44 Jahre alt und 1,70 Meter groß, hat Mühe, den Sieger, der ihn um einen Kopf überragt, durch die Zuschauermassen zurück in dessen Kabine zu bugsieren. Rothenburg trägt trotz der spätsommerlichen Hitze Krawatte und einen grauen Dreiteiler. Die langen Ärmel verhüllen die Tätowierungen auf den Unterarmen des ehemaligen Matrosen – Kreuz, Herz und Anker für das alte Seemannsmotto „Glaube, Liebe, Hoffnung“.

Bis heute fand in Europa nie wieder ein Boxkampf vor einer solchen Menschenmenge statt – 80 000 Zuschauer schätzt die britische Wochenschau, 100 000 behauptet das „Hamburger Fremdenblatt“. Schon Stunden vor dem Beginn staute sich der Verkehr auf der Hamburger Hoheluftchaussee; so groß war der Andrang auf das Gelände der „Dirt Track“-Motorradbahn bei der Kampstraße (dem heutigen Gazellenkamp). Autos mit Kennzeichen aus Skandinavien, Frankreich, Belgien, Holland und England sind zu sehen, laufend treffen Sonderzüge aus Berlin, Essen, Breslau und anderen Städten ein. Und aus ganz Deutschland reisen Leute mit der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ an.

Die Nationalsozialisten nutzen die Beliebtheit des Boxsports für ihre Propaganda, denn kaum ein Sport begeistert die Deutschen in den 1920er- und 1930er-Jahren so wie das Boxen. Rothenburg selbst ist kein Nazi, sein Vater Joseph war sogar Jude. Doch um den Beruf als Boxpromoter, für den er brennt, weiter ausüben zu können, arrangiert er sich mit Politikern und Sportfunktionären. Jedenfalls so lange es geht.

Als Walter Rothenburg, geboren am 28. Dezember 1889 in Hamburg, das Boxen vor dem Ersten Weltkrieg lernt, ist er ein Halbwüchsiger von 15 Jahren, und noch gilt der Faustkampf in Deutschland als Volksbelustigung, für Rauf- und Trunkenbolde, die ihr Geld verwetten, wenn Boxer und Ringer auf Jahrmärkten und im Zirkus gegeneinander antreten. Weil es dabei oft zu Tumulten und Schlägereien kommt, werden öffentliche Ring- und Boxkämpfe im Kaiserreich immer wieder von der örtlichen Polizei verboten. Boxen boomt hier erst gut 200 Jahre, nachdem um 1700 der britische Fechtlehrer und Schaukämpfer James Figg diesen Sport als Trockenübung fürs Fechten entwickelte. Dort trainierte bald die englische Aristokratie zur körperlichen Ertüchtigung und Charakterbildung, darunter auch der Dichter Lord Byron.

Es sind Matrosen, die diesen Sport in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts aus England und den USA nach Deutschland bringen. Der Boxpionier und spätere deutsche Meister im Schwergewicht, Paul Samson-Körner, etwa lernt das Boxen 1907 auf einer Passage von Kapstadt in die USA. Hans Breitensträter, jahrelang deutscher Meister, kämpft zum ersten Mal als Leichtmatrose auf einer Überfahrt von Australien nach San Francisco und trainiert, weil es dort sonst kaum etwas anderes zu tun gibt, ab 1915 in einem englischen Kriegsgefangenenlager auf der Isle of Man.

Auch Walter Rothenburg lernt das Boxen auf Decksplanken. Eigentlich hatte er Bäcker werden sollen, so wollten es die Eltern. Doch Rothenburg hatte schon als Kind Sehnsucht nach der See und hörte im Hinterhof begeistert den älteren Nachbarsjungen zu, wenn diese braun gebrannt von ihren Fahrten zurückkamen. Rothenburg schmeißt die Lehre und fährt 1905 für eine Monatsheuer von 15 Mark als Maschinenjunge auf der „Prinz August Wilhelm“ mit, einem Post- und Passagierdampfer auf dem Weg nach Mexiko.

Auf diesem Schiff sieht er zum ersten Mal einen Boxkampf, der nach Regeln verläuft. „Geht an Deck und stoßt die Sache aus!“, soll der Mannschaftsälteste einmal zu zwei streitenden Matrosen gesagt haben. Die gesamte Freiwache, auch der Schiffsjunge Walter Rothenburg, schaut gebannt zu – für ihn ein Schlüsselerlebnis. Nicht nur der Kraftakt fasziniert ihn, sondern auch das Fair Play: Liegt der Gegner am Boden, darf nicht mehr auf ihn eingeschlagen werden; diese Haltung gefällt Rothenburg.

Irgendwann probiert er es selbst. „Wir Matrosen wickelten uns, ohne überhaupt eine Ahnung vom Boxen zu haben, Handtücher um die Fäuste, und ab ging die Post. Wer das dickste blaue Auge bekam, hatte verloren“, schreibt er mit knapp 60 Jahren in seiner Autobiografie „Kampf um Meister und Millionen“. 1910 – in den USA reden alle über den Jahrhundertkampf zwischen dem Schwarzen Jack Johnson und dem ehemaligen Weltmeister Jim Jeffries in Texas – näht Rothenburg einen Sandsack aus Segeltuch und hängt ihn am Ladebaum auf. Die Handhaltung will er trainieren, um sich beim Schlagen nicht den Daumen zu verstauchen.


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mare No. 125

No. 125Dezember 2017 / Januar 2018

Von Silvia Tyburski

Silvia Tyburski, Jahrgang 1976, freie Autorin in Hamburg, ist anlässlich ihrer Boxrecherche zu einem Probetraining gegangen. Sie muss noch sehr viel für ihre Kondition tun und an ihrer Deckung arbeiten.

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Vita Silvia Tyburski, Jahrgang 1976, freie Autorin in Hamburg, ist anlässlich ihrer Boxrecherche zu einem Probetraining gegangen. Sie muss noch sehr viel für ihre Kondition tun und an ihrer Deckung arbeiten.
Person Von Silvia Tyburski
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