Von nun an nur im Traume

Unterseeboote, Propellerinseln, Kapitäne – der Utopist Jules Verne hat Millionen von Lesern aufs Meer geführt. Woher aber stammte seine Liebe fürs Ozeanische? Eine Spurensuche

Unter dem Pflaster des 16. Arrondissements liegt vielleicht der Strand, doch ganz gewiss nicht das Meer. Eine Miniaturausgabe des Unterseeboots „Nautilus“ wartet in einer angestrahlten Vitrine des Pariser Musée de la Marine auf Besucher und Bewunderer; vielleicht vor allem aber auf Spurensucher, die vor dem ersten Anschein nicht sogleich kapitulieren.

Kapitän Nemos unterseeisches Freiheitsrefugium und anarchisches Kampfinstrument als sorgsam beschriftetes Ausstellungsstück, präsentiert auf dem Trockendock penibler Jules-Verne-Würdigung? Währenddessen ist gleich nebenan ein ungleich größeres Modell des „Plongeur“ zu sehen, jenes erstmals bei der Pariser Weltausstellung 1867 gezeigten Tauchboots, das den Autor ebenso inspiriert hatte wie Victor Hugos zuvor erschienener Roman „Die Arbeiter des Meeres“.

Dennoch: Man muss es wohl erst suchen, das richtige Meer, die maritime Welt des Jules Verne. Vielleicht nicht in seinen Romanen, die ab 1863 für Generationen von Lesern zu dem wurden, was die aktuellen Bestsellerschinken von Dan Brown bis Ken Follett nicht einmal eine Saison lang leisten können: Wegbegleiter zu sein in das Erwachsenenleben, schillernde Rettungs- und Erinnerungsanker angesichts wachsender Lebensroutine, in den glücklichsten Fällen aber auch Logbücher für Reisen, die ab nun nicht mehr allein in der Fantasie stattfinden müssen und sich stattdessen ihren Weg aus Kinder- und Jugendzimmern hinaus ins Offene, Reale bahnen. In den Büchern Jules Vernes war es klar, und jeder, der sie gelesen hat, vergisst die unterhaltsame Lektion bis an sein Lebensende nicht.

Das Meer nämlich ist da kein literaturtheoretisch abzuklopfendes „Handlungselement“, sondern das, was es eben ist – eine gewaltsame oder in sich ruhende Wirklichkeit, ein Versprechen von Freiheit oder auch Untergang, auf jeden Fall aber etwas, mit dem Kapitän Nemo, Kapitän Hatteras und der Kapitän von 15 Jahren ebenso existenziell rechnen müssen wie die Kinder des Kapitän Grant oder die panischen Passagiere auf der letzten Fahrt der „Chancellor“. (Was für eine Zeit, als die Helden der französischen Literatur auch angelsächsischer Herkunft sein durften und La Grande Nation noch nicht von den Furien des dröhnenden Antiamerikanismus gejagt wurde.) Der Erfinder – oder sollte man besser sagen: Finder – all dieser Personen und Geschichten starb vor genau 100 Jahren in Amiens, eine Zugstunde nördlich von Paris, geboren wurde er an der bretonischen Küste in Nantes. Wo aber ist das Meer?

Verschiebungen, Veränderungen, Vergänglichkeit. Als Jules Verne 1828 in einem wohlhabenden Bürgerhaus auf der Insel Feydeau zur Welt kam, hatte Nantes seinen Platz als bedeutende französische Hafenstadt bereits seit einiger Zeit abgeben müssen: Der Wasserstand der Loire war viel zu niedrig, als dass die großen Handelsschiffe mit ihren Ladungen von Kakao, Kaffee, Zucker oder Elfenbein weiterhin direkt an den städtischen Quais hätten ankern können. Nicht das an Bedeutung verlierende Nantes, sondern das 60 Kilometer entfernte und direkt am Atlantik gelegene Saint-Nazaire wurde zum Zentrum des Überseeverkehrs. Auch deshalb hätte es wohl nichts genutzt, wäre dem elfjährigen Jules das Ausbüchsen auf dem Dampfer „Coralie“ wirklich gelungen – statt bereits in Nantes vom besorgten Vater wieder nach Hause verfrachtet zu werden, hätte man ihn dann eben im Küstenhafen von Bord holen müssen.

„Ich werde von nun an nur noch im Traume reisen“, soll der unternehmungslustige Knabe seiner Mutter danach erklärt haben. Ob dieser altklug-pathetische Satz infolge der väterlichen Rückholaktion tatsächlich fiel, darf jedoch getrost bezweifelt werden – immerhin ist er so gut erfunden, dass er durchaus von dem (späteren) Jules Verne hätte stammen können, auch wenn dieser, allen bis heute verbreiteten Klischees zum Trotz, keineswegs nur ein Ohrensessel-Voyageur war. Im Gegenteil: Nachdem er 1877 bei einem der zahlreichen Besuche in seiner Geburtsstadt sein nunmehr drittes Schiff, einen 33 Meter langen Schoner mit Dampfantrieb, gekauft hatte, brach er mit seiner Familie sogleich zu einer ausgedehnten Kreuzfahrt auf, die ihn nach Spanien, Portugal und Nordafrika führte, in den kommenden Jahren dann nach England und Schottland und 1881 sogar nach Skandinavien – als müsste er all seinen romanesken Polfahrern hinterhereilen.


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mare No. 51

No. 51August / September 2005

Von Marko Martin

Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als freier Schriftsteller in Berlin; zuletzt erschien sein Nachwende-Tagebuch Sommer 1990 (Deutsche Verlagsanstalt, München). Die Entdeckung Jules Vernes im Alter von neun Jahren verdankt er seiner Mutter, die eines Tages mit einer reich illustrierten Ausgabe des „Kapitäns von 15 Jahren“ nach Hause kam.

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Vita Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als freier Schriftsteller in Berlin; zuletzt erschien sein Nachwende-Tagebuch Sommer 1990 (Deutsche Verlagsanstalt, München). Die Entdeckung Jules Vernes im Alter von neun Jahren verdankt er seiner Mutter, die eines Tages mit einer reich illustrierten Ausgabe des „Kapitäns von 15 Jahren“ nach Hause kam.
Person Von Marko Martin
Vita Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als freier Schriftsteller in Berlin; zuletzt erschien sein Nachwende-Tagebuch Sommer 1990 (Deutsche Verlagsanstalt, München). Die Entdeckung Jules Vernes im Alter von neun Jahren verdankt er seiner Mutter, die eines Tages mit einer reich illustrierten Ausgabe des „Kapitäns von 15 Jahren“ nach Hause kam.
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