Von Korallen sprechen

Was den Deutschen der Wald, ist den Australiern das Große Barriereriff: mythischer Ort der Inspiration für Dichter und Denker

Am 28. September 1897 spielt sich im australischen Großen Barriereriff eine Komödie ab: Der nervenkranke Journalist Edmund James „Ted“ Banfield aus Townsville wird von seinem Bediensteten Tom auf Dunk Island an Land getragen. Banfield ist zu schwach, um die kurze Strecke selbst zurückzulegen. Die Arbeit bei einer australischen Tageszeitung hat ihn völlig ausgebrannt. Tom, ein Aborigine, legt den abgemagerten Körper Banfields am Saum des Wassers nieder, das sich in kniehohen Wellen in der windgeschützten Bucht bricht. Kurz darauf watet auch die schwerhörige Sängerin Bertha Golding, eine Tosca im Tropenhut, vom Boot. Vier Kilometer vom Festland entfernt, sind sie nun im großen Riff, an Land. Als Golding barfüßig den feinen weißen Sand von Dunk Island betritt, schnarcht ihr erschöpfter Mann Ted Banfield bereits unter dem wolkenlosen Tropenhimmel, während Tom ein Lager aufschlägt.

Abgesehen von den dreien ist Dunk Island, oder Coonanglebah, wie die Insel von den Ureinwohnern genannt wird, völlig menschenleer. Die Ureinwohner sind vor mehreren Generationen aufs Festland gebracht worden. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert befindet sich Australien im Umbruch: 1901 werden die Nachkommen von exilierten Straftätern, Opportunisten und Abenteurern ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Empire der Königin von England ausrufen. Auch das nordöstlich gelegene Queensland erlebt nun eine rasante wirtschaftliche Erschließung.

Und draußen im Meer das Große Barriereriff, um 1900 noch das, was die Portugiesen 1550 in ihren französischen Karten bei der ersten Sichtung als „coste dangereuse“ vorfanden: ein schwer navigierbares Gebiet von fast 3000 Einzelriffen, in dem 1000 Inseln und unzählige Sandbänke auf einer Strecke von 2300 Kilometern entlang der nordöstlichen Küste Australiens bis nach Papua-Neuguinea den Ozean für Schiffsreisende in einen tödlichen Wirrwarr verwandeln.

Die ersten europäischen Entdecker wissen nicht, dass es sich um ein zusammenhängendes Gebiet handelt. James Cook, der nach englischer Geschichtsschreibung 1770 Australien entdeckt hatte, hält das Große Barriereriff für ein namenloses Labyrinth, darin der tiefe Pazifik sich augenblicklich zu einer Pfütze verflacht und die mächtigen Schiffe auf Grund laufen lässt. Das Riff ist chaotisch durchzogen von Gebilden, von denen die frühen Seefahrer kaum sagen können, ob es sich um Felsen oder Blumen handelt, wenn die Rümpfe ihrer Boote ohne Warnung aufgerissen werden und die gesamte Mannschaft dem Verderben anheimfällt. Shakespeare wird im „Sturm“ von den Korallen schreiben, sie seien aus menschlichen Knochen entstanden, und selbst der sonst so nüchterne Charles Darwin wird beim Anblick des Korallenmeers die unerklärliche Mischung von Schrecken und Schönheit konstatieren.

In unserer kleinen Komödie ist derweil der nächste Tag angebrochen. Wir schreiben den 29. September 1897. Ted Banfield wacht auf. Noch immer befindet er sich am schaumigen Küstensaum, wo er tags zuvor niedergelegt worden war. Noch immer rinnen die Wellen in glitzernden Flächen aus der Bucht auf ihn zu und ziehen sich vor seinen Füßen wieder zurück. Ted spürt im Rücken, wie die Sonne den Sand bereits in der Frühe wärmt. Als er die Augen aufschlägt, rafft und dehnt sich über ihm eine Wolke aus rosa- und lilafarbenen Schmetterlingen, die von der Brise in den Palmenwald hinter ihm geweht wird. Noch nie, stellt Ted Banfield fest, habe er so vorzüglich geschlafen. Und zu seiner Verwunderung ist alle Schwäche aus ihm gewichen, ist er so wach, wie er nie glaubte, wach sein zu können. „Du musst übers Korallenmeer gleiten, um zu deiner Insel zu gelangen“, wird er Monate später schreiben, „das Korallenmeer ist nicht wie der Busch, den man schwitzend mit den stählernen Klingen von Macheten durchhackt. Korallen sind anders. Du musst leicht darüber hingleiten wie eine Wolke, sonst erreichst du das Ziel nie.“

Der Geschichte Queenslands mangelt es gewiss nicht an widersprüchlichen Momenten und Begebenheiten. Dazu zählt sicherlich die Zeit zwischen September 1897 und August 1933, in der eine schwerhörige Sängerin und ein nervenkranker Journalist das Große Barriereriff zu einem irdischen Paradies machen. Banfield war inspiriert von Henry David Thoreau, der in den 1850ern aus Boston an die entlegenen Ufer von Walden Pond ging, um dort „bestimmt und gesammelt zu leben, um nur den essenziellen Tatsachen des Lebens Vorrang zu geben“.

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mare No. 133

No. 133April / Mai 2019

Von Beate Tröger, Paul-Henri Campbell und Kat Menschik

Die Germanistin und Anglistin Beate Tröger, geboren 1973, lebt in Frankfurt/Main und arbeitet als Moderatorin und freie Kritikerin für Print und Hörfunk.

Paul-Henri Campbell, Jahrgang 1982, studierte katholische Theologie und klassische Philologie. Soeben erschien sein Buch Tattoo und Religion im Verlag Das Wunderhorn. Er übersetzte die hier abgedruckten Gedichte aus dem Englischen. Die Originale finden Sie auf www.mare.de/riffgedichte.

Kat Menschik, Jahrgang 1968, lebt in Berlin. Die mehrfach ausgezeichnete Illustratorin arbeitet für eine Reihe von Zeitungen und Magazinen und widmet sich der Bebilderung von Büchern.

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Vita Die Germanistin und Anglistin Beate Tröger, geboren 1973, lebt in Frankfurt/Main und arbeitet als Moderatorin und freie Kritikerin für Print und Hörfunk.

Paul-Henri Campbell, Jahrgang 1982, studierte katholische Theologie und klassische Philologie. Soeben erschien sein Buch Tattoo und Religion im Verlag Das Wunderhorn. Er übersetzte die hier abgedruckten Gedichte aus dem Englischen. Die Originale finden Sie auf www.mare.de/riffgedichte.

Kat Menschik, Jahrgang 1968, lebt in Berlin. Die mehrfach ausgezeichnete Illustratorin arbeitet für eine Reihe von Zeitungen und Magazinen und widmet sich der Bebilderung von Büchern.
Person Von Beate Tröger, Paul-Henri Campbell und Kat Menschik
Vita Die Germanistin und Anglistin Beate Tröger, geboren 1973, lebt in Frankfurt/Main und arbeitet als Moderatorin und freie Kritikerin für Print und Hörfunk.

Paul-Henri Campbell, Jahrgang 1982, studierte katholische Theologie und klassische Philologie. Soeben erschien sein Buch Tattoo und Religion im Verlag Das Wunderhorn. Er übersetzte die hier abgedruckten Gedichte aus dem Englischen. Die Originale finden Sie auf www.mare.de/riffgedichte.

Kat Menschik, Jahrgang 1968, lebt in Berlin. Die mehrfach ausgezeichnete Illustratorin arbeitet für eine Reihe von Zeitungen und Magazinen und widmet sich der Bebilderung von Büchern.
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