Vom Wal verschluckt

Immer wieder gab es Berichte von Menschen, die, von einem Wal verschluckt, überlebten. Seither forscht man, ob das möglich ist

Ein riesiger Wal attackiert vor den Falklandinseln das Fangschiff „Star of the East“. Mit seiner Schwanzflosse fegt er den Matrosen James Bartley von Bord. Bartley versinkt in den Wellen und taucht nicht wieder auf. Seine Kollegen glauben, er sei ertrunken. Doch als sie den Wal schließlich mit Harpunen erlegen, an Deck hieven und ausnehmen, entdecken sie im Magen „etwas Zusammengekrümmtes, das sporadische Lebenszeichen von sich gibt“, berichtet die „New York Times“ am 22. November 1896. Es ist der vermisste Seemann, bewusstlos, aber noch am Leben! 36 Stunden habe James Bartley im Inneren des Wals verbracht. Die Geschichte klingt bizarr. Doch nur zwei Wochen später bringt die „New York Times“ einen weiteren Artikel über ein ähnliches Ereignis. Diesmal sollen sogar zwei Männer vorübergehend von einem Meeressäuger verschluckt worden sein. Können Menschen tatsächlich den Aufenthalt im Magen eines Wals überstehen?

Schon im Alten Testament wird Jona von einem „großen Fisch“ verschluckt. Der Prophet erhielt von Gott den Auftrag, den sündigen Bewohnern der Stadt Ninive ein Strafgericht anzukündigen. Als er sich drücken will, entfacht Gott einen Sturm. Jonas Schiff gerät in Seenot. Er wird über Bord geschleudert, und der „große Fisch“ verschluckt ihn. In dessen Bauch plagt ihn das Gewissen, er betet zu Gott – und wird nach drei Tagen wieder an Land gespien.

Auch weltliche Schriftsteller verwenden das Motiv bereits seit der Antike: In einem Werk Lukians aus dem zweiten Jahrhundert überleben ganze Völkerschaften in einem gigantischen Wal. Pinocchio wird vorübergehend von einem solchen Riesen verschluckt. In Michael Köhlmeiers Erzählung  „Der Unfisch“ von 1997 kopuliert ein Pärchen gar im Bauch eines Wals.

Die meisten Wissenschaftler sind der Meinung, dass sich in Wirklichkeit keine Jona-Geschichten zutragen können. Ein Wal würde sein Opfer mit den Zähnen zermalmen, meinen die einen. Und verschlucke der Meeressäuger einen Menschen unzerkaut, glauben andere, wären die Verdauungs­sekrete in seinem Magen tödlich. Wieder andere Forscher bezweifeln, dass Walmägen überhaupt groß genug seien, um einen Menschen aufzunehmen. Und schließlich: Wie sollen Jona und der Matrose James Bartley im Bauch des Wals geatmet haben?

Der britische Gelehrte Ambrose Wilson war in den 1920er-Jahren dennoch überzeugt, dass das Überleben im Magen eines Wals möglich sei. Denn Wal sei nicht gleich Wal. Durch den Schlund des Bartenwals etwa passe „nichts, das größer als eine Grapefruit“ sei. Pottwale dagegen seien bestens ausgestattet, um einen Menschen zu verschlingen. Und ein Vertreter dieser Spezies sei es auch gewesen, der Jona in seinem Bauch Asyl gewährt habe, ein bis zu 18 Meter langes und 50 Tonnen schweres Tier, Vorbild für Herman Melvilles „Moby-Dick“. Pottwale sind die größten Raubtiere der Welt. Sie können 3000 Meter tief tauchen und verschlingen bis zu 1,5 Tonnen Nahrung am Tag.

Professor Wilson bezieht sich in seiner Studie nicht nur auf den Fall Bartley, über den neben der „New York Times“ unter anderem das „Aberdeen Journal“ und der „Dundee Evening Telegraph“ aus Schottland sowie das „Derry Journal“ aus Nordirland berichtet haben. Er verweist auch auf einen Augenzeugenbericht aus dem Jahr 1771. Ein Pottwal soll in der Südsee ein Walfangboot entzweigebissen, einen Matrosen verschlungen und in die Tiefe gerissen haben. Der Seemann scheint dem Meeressäuger allerdings nicht geschmeckt zu haben. Als er wieder auftauchte, habe er sein Opfer „sehr zerkratzt, aber nicht ernsthaft verwundet“ auf die im Wasser treibenden Trümmer des Bootes ausgespuckt. Doch können Wale wirklich ganze Menschen verschlucken? Ernähren sich diese Tiere nicht von Krill?

Ambrose Wilson liegt richtig, zeigt die jüngere Forschung. Zwar fressen Bartenwale wie der Finnwal, der Buckelwal oder der Blauwal in der Tat vor allem Krill, der wie lebender Staub im Meer umherwuselt. Mit ihrem riesigen Kamm aus feinen Hornplatten, den sogenannten Barten, filtern sie diese Kleinst­lebewesen aus dem Wasser. Ihre Speiseröhre ist eng. Grapefruit hin oder her, ein Mensch würde niemals hindurchpassen. Das Maul eines Pottwals aber ist bartenfrei – und riesig. Allein der Kopf macht bei diesem Giganten ein Drittel der Körperlänge aus, und die geräumige Speiseröhre bietet für einen Seemann locker Platz.

Für Wilsons Pottwalthese spricht auch, dass diese Säuger ihre Beute, obwohl sie Zähne haben, am Stück verschlingen. Mitte der 1950er-Jahre wurde vor den Azoren ein zehn Meter langer Riesenkalmar unzerkaut im Magen eines solchen Wals gefunden. Die säurehaltigen Sekrete, die der Pottwalmagen absondert, zersetzen allerdings mühelos sogar Haie. Für Jona seien diese Magensäfte „selbstverständlich unangenehm“ gewesen, räumt Wilson ein, „aber keineswegs tödlich“. Denn: „Der Wal kann nichts Lebendes verdauen, da er ja ansonsten auch seine eigenen Magenwände verdauen würde.“


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mare No. 115

No. 115April / Mai 2016

Von Till Hein

Als Till Hein, Jahrgang 1969, Wissenschaftsjournalist in Berlin, neulich über Krankheiten des menschlichen Magen-Darm-Trakts recherchierte, stieß er zufällig auf dieses Thema – das ihm, als großem Walfan, gleich viel mehr Spaß machte.

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