Ich reiste nach Stockholm, um Mitternacht war es noch hell. Zwei Tage später stieg ich in den Pendlerzug nach Västerhaninge, in Västerhaninge in den Bus nach Årsta Brygga, in Årsta Brygga auf die Fähre nach Utö. Die restlichen 29 999 Inseln im Schärengarten ließ ich außer Acht, die meisten sind ohnehin baumbestandene Felsklekse, manchmal liegen zwischen ihnen nur ein paar Meter Ostsee. Nach insgesamt zwei Stunden Fahrt erreichte ich Gruvbyn auf der Insel Utö, die auf ideale Weise Durchschnitt ist. Sie ist eine der größten Schären im südlichen Archipel, die Hälfte des Landes ist Naturschutzreservat, ein Großteil dazu militärisches Sperrgebiet. Einst gab es hier eine Mine, in der, so heißt es, zum ersten Mal in der Weltgeschichte Lithium entdeckt und gefördert wurde.
Ich verließ die Fähre „Waxholm II“ und betrat Utö-Land an einem gewöhnlichen Hochsommersonntag. Am laufenden Band fuhren Segelboote ein, gurgelten Motorboote heran, trafen Fähren ein. Am großen Mast neben der Marina flatterte die Nationalflagge, und in der Bar des Restaurants „Nya Dannekrogen“ gegenüber sang ein Entertainer mit Pferdeschwanz „No Woman, No Cry“ auf Schwedisch. Ich bezog meine online gebuchte Hotelhütte aus rot gestrichenem Holz, lieh mir ein Fahrrad, aß in der „Bageri“ eine Zimtschnecke mit Kardamom und nahm mir vor, von nun an die Frage zu klären, ob das Sommerhaus in den Schären das letzte Symbol für Gleichheit und Glück der Schweden oder doch nur eine große Selbstlüge ist.
Montagnachmittag auf Utö könnte auch Donnerstagvormittag sein, in der Einsamkeit spielt Zeit keine Rolle. Nirgendwo ist eine öffentliche Uhr zu sehen, für Glockenschläge fehlt hier die Kirche.Zu hören sind Grillengezirp und ein röhrendes Mofa mit drei Rädern, das ist erst einmal alles, was die Welt noch überliefert. Auf Utö gibt es keine Autos, also so gut wie keine, ein paar sind es schon, Liefer-Pkws etwa, und wenn eines davon kommt, stört es sofort, weil ein Auto nicht hierherpasst. Schon nach kurzer Zeit hört man jedes Rascheln, manchmal ist die Stille total, so etwas ist selten geworden dieser Tage.
Utö ist zehn Kilometer lang und etwa drei Kilometer breit. 200 Einheimische leben dauerhaft hier, an manchen Sommertagen kommen Tausende Gäste. Es gibt gut 400 Sommerhäuser und eine Handvoll Straßen, die meisten sind aus hart gepresstem Sand. Einer der seltenen geteerten Wege ist die Lurgatan, ein leicht geschwungener, hügelaufwärts strebender Pfad, an dessen beiden Seiten gleich viele, gleich große, fast gleich aussehende, in gleichem Rot gestrichene Holzhäuser in ungefähr gleichem Abstand gereiht sind. Erbaut wurden sie Ende des 18. Jahrhunderts für die Minenarbeiter der Eisenerzgruben von Utö. Als die Mining Company Mitte des 20. Jahrhunderts die Geschäfte wegen fortlaufender Unwirtschaftlichkeit endgültig schloss, wurden die Wohnhäuser der Minenarbeiter von Utö über die Jahre hinweg zu Ferienhäusern für Arbeiter aus Stockholm.
Lurgatan 10. „Hej!“ Vorm Rosenstock im Garten bückt sich eine Frau mit geflochtenem Pferdeschwanz und Shorts und stutzt die Rosen im Beet, ihr Teint ist bronzefarben, der Garten liebevoll gepflegt. „Hej“, sagt sie zurück. Das Haus habe 60 Quadratmeter, im Grunde sei es ein einfacher Holzlattenbau. Zu Minenzeiten vor 200 Jahren hätten zwei Familien in diesem Haus gelebt. Wer hinein will, muss sich bücken, Komfort ist nicht vorgesehen. Komfort hat die Frau in ihrem Apartment in Stockholm, wie die meisten, die ein Sommerhaus auf Utö haben, eine Wohnung in Stockholm mieten oder besitzen. Seit 25 Jahren wohnt die Frau mit Pferdeschwanz zwischen Mai und September im alten Minenarbeiterhaus in der Lurgatan, aber es gehört nicht ihr, sondern der Schärengartenstiftung in Stockholm, der etwa die Hälfte aller Sommerhäuser auf Utö gehört. Der Stiftung zahlt die Frau 350 Euro Miete im Monat, und zwar zwölf Monate im Jahr, obwohl sie nur drei Monate auf Utö ist und die allgemeine Wasserquelle in der Lurgatan, wie sie sagt, von der Gemeindeverwaltung am 1. Mai an- und am 1. September abgestellt werde. Wer in einem Sommerhaus der Stiftung wohnt, bezahlt acht Monate lang die eigene Abwesenheit, das muss man mögen.
Wäre das Sommerhaus ein Haus auch für Herbst, Winter und Frühling, hieße es erstens nicht Sommerhaus und hätte zweitens fließend Wasser, Bad, WC und eine Küche. Weil das Sommerhaus aber ein Sommerhaus ist, besitzt es weder ein WC noch eine Heizung, noch hat es fließend Wasser und offiziell keine Küche, weil man, gemäß der schwedischen Sommerhausidee, im Herbst, Winter und Frühling ja nicht hier sein sollte. Also muss die Frau mit Pferdeschwanz das Trinkwasser draußen am Gemeinschaftshahn der Lurgatan holen und 100 Meter in Eimern hinübertragen, was sie gern macht, in stressigen Zeiten tut das einfache Leben wohl. Jederzeit stehen zwei Eimer bereit: einer für Frischwasser, einer für Abwasser. Auch die Nachbarn der Frau gehen zur Sammelstelle. „Hej!“ Schnell kommt man ins Gespräch, und immer wieder kommt, in Variationen, ein Satz: Wir lieben es hier, wir brauchen die Ruhe hier dringend!
Ruhe heißt vor allem Abstand. Ein Sommerhaus steht meist relativ weit vom nächsten entfernt. Abstand ist für einen Schweden offenbar wichtig, weil der eine Schwede offenbar Abstand zum anderen Schweden braucht, so haben es Wissenschaftler immer wieder betont. Die Schweden, heißt es mit dem Mut zum Klischee beim Psychiater Gotthard Söderbergh 1929, liebten die Steine ihres Vaterlands mehr, als sie andere Menschen liebten. 1944 notierte der schwedische Pädagoge Georg Brandell, der Charakter seiner Landsleute sei durch soziale Inkompetenz gekennzeichnet.
Und in ihrem 2022 erschienenen Buch „The Swedish Theory of Love“ resümieren die Historiker Henrik Berggren und Lars Trägårdh: „Für die Schweden ist der ideale Zustand eine Robinson-Crusoe-ähnliche Existenz in der Natur, ein Leben als autonomes Individuum, frei von gegenseitiger Abhängigkeit und der gemeinsamen Rücksichtnahme, die der enge Umgang mit anderen erfordert.“
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Christian Schüle, geboren 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in München und Wien und lebt als freier Autor und Essayist in Hamburg. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Von seiner Recherche auf den schwedischen Schären kehrte er nachdenklich zurück: Sollte der Mensch wirklich dann am glücklichsten sein, wenn er möglichst allein und jenseits sozialer Nähe lebt – wäre das schwedische Erfolgsprinzip Glück durch Einsamkeit dann auch auf Deutschland übertragbar?
Aliona Kardash, Jahrgang 1990, ist eine Dokumentarfotografin aus Sibirien und lebt in Hamburg. In ihrer fotografischen Arbeit sucht sie häufig nach universellen Mustern in sehr persönlichen Geschichten. Sie beschäftigt sich mit kultureller und nationaler Identität, der Verbindung der Menschen zu ihrer Vergangenheit und Gemeinsamkeiten. All das fand sie auch in den Stockholmer Schären – einem Ort, an dem Naturverbundenheit und schwedisches Lebensgefühl eng miteinander verwoben sind.
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Vita | Christian Schüle, geboren 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in München und Wien und lebt als freier Autor und Essayist in Hamburg. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Von seiner Recherche auf den schwedischen Schären kehrte er nachdenklich zurück: Sollte der Mensch wirklich dann am glücklichsten sein, wenn er möglichst allein und jenseits sozialer Nähe lebt – wäre das schwedische Erfolgsprinzip Glück durch Einsamkeit dann auch auf Deutschland übertragbar? Aliona Kardash, Jahrgang 1990, ist eine Dokumentarfotografin aus Sibirien und lebt in Hamburg. In ihrer fotografischen Arbeit sucht sie häufig nach universellen Mustern in sehr persönlichen Geschichten. Sie beschäftigt sich mit kultureller und nationaler Identität, der Verbindung der Menschen zu ihrer Vergangenheit und Gemeinsamkeiten. All das fand sie auch in den Stockholmer Schären – einem Ort, an dem Naturverbundenheit und schwedisches Lebensgefühl eng miteinander verwoben sind. |
Person | Von Christian Schüle und Aliona Kardash |
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Vita | Christian Schüle, geboren 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in München und Wien und lebt als freier Autor und Essayist in Hamburg. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Von seiner Recherche auf den schwedischen Schären kehrte er nachdenklich zurück: Sollte der Mensch wirklich dann am glücklichsten sein, wenn er möglichst allein und jenseits sozialer Nähe lebt – wäre das schwedische Erfolgsprinzip Glück durch Einsamkeit dann auch auf Deutschland übertragbar? Aliona Kardash, Jahrgang 1990, ist eine Dokumentarfotografin aus Sibirien und lebt in Hamburg. In ihrer fotografischen Arbeit sucht sie häufig nach universellen Mustern in sehr persönlichen Geschichten. Sie beschäftigt sich mit kultureller und nationaler Identität, der Verbindung der Menschen zu ihrer Vergangenheit und Gemeinsamkeiten. All das fand sie auch in den Stockholmer Schären – einem Ort, an dem Naturverbundenheit und schwedisches Lebensgefühl eng miteinander verwoben sind. |
Person | Von Christian Schüle und Aliona Kardash |