Vom Flügelschlag zum Wirbelsturm

Was ein Schmetterling über dem Ozean anrichten kann

Komplexe zusammenhänge brauchen einfache Bilder. So wie das vom Schmetterling. Der Flügelschlag des Schmetterlings mitten im Dschungel, der den Wirbelsturm in der Karibik auslöst – ein einfaches Bild für die hochkomplexe Theorie der Zustände fern des Gleichgewichts, die schließlich die Welt in Bewegung halten, meist auch „Chaostheorie“ genannt.

Für die Chaostheorie und ihre Vertreter ist dieses Bild äußerst praktisch. Schließlich transportiert es mit simplen, jedermann verständlichen Worten, dass alles mit allem zusammenhängen kann und dass die Wirkungen einer Handlung nicht vorhersehbar sind. Damit ist das Bild ziemlich nah an dem, was die Chaostheorie tatsächlich aussagt. Ohne den Schmetterling würde dagegen kaum mehr von ihr in den Köpfen hängenbleiben, als dass alles chaotisch ist – was nun sehr weit von der eigentlichen Aussage entfernt ist.

Das negative Vorbild ist hier die Relativitätstheorie: Sie hat eine einfache Formel, e = mc2, aber kein einfaches Bild. Das einzige, das immer wieder angeboten wird, ist ein Zug, der mit Lichtgeschwindigkeit fährt – nicht wirklich der Gipfel der Anschaulichkeit. Deshalb bleibt von Einsteins großer Leistung nur ein flaches „Alles ist relativ“ in den Köpfen (ein kleiner Gegenvorschlag: e = mc2 besagt, dass ein durchschnittlicher Erwachsener so viel Energie enthält, wie vier Atomkraftwerke während ihrer gesamten Laufzeit produzieren – „ich bin vier AKWs“ wäre doch so richtig schön plastisch).

Zugegeben, auch dann noch ist der Schmetterling das bessere Bild: freundlich, anschaulich, exotisch ... Moment mal: wieso eigentlich exotisch? Schmetterlinge gibt es doch auch in Deutschland zuhauf – warum lassen wir den Sturmauslöser nicht einfach über Frankfurt flattern?

Ganz einfach – weil wir uns dann nicht glauben würden. Das ist das Dilemma des einfachen Bildes: Sobald sich Orte oder Handlungen dort hineinschleichen, die uns bekannt scheinen, gewinnt unsere Erfahrung die Oberhand über die – zugegebenermaßen extrem unwahrscheinliche – Ereigniskette, die zwischen dem kleinen Auslöser und der großen Wirkung liegt. Und unsere Erfahrung ist gespeist von Zuständen, die in der Nähe des Gleichgewichts liegen, denen mithin wenig Dynamik innewohnt. Schon der Erfinder des Schmetterlingseffekts, Edward Lorenz, berücksichtigte das. Bei ihm war es 1972 „the flap of a butterfly’s wing in Brazil“, der einen Tornado in Texas auslöste. Seither verlegte die chaostheoretische Literatur den entscheidenden Flügelschlag mal nach Burma, mal nach Peking, mal nach Afrika. So sehr der Schmetterling Vertrautheit suggeriert, so fern ist er doch von allem, was wir kennen.

Was aber, wenn wir den Herkunftsort dorthin verlegen, wo Wirbelstürme entstehen – mitten in dem Ozean? Dann hätte der Schmetterling zwar, meteorologisch gesehen, größere Chancen, tatsächlich eine Katastrophe herbeizuführen, aber dafür spielt die Biologie nicht mit: Mitten im Ozean gibt es keine Schmetterlinge, weil sie das Land brauchen, um in der Luft zu existieren.

Da könnte man ihn doch einfach gegen ein anderes Fluggetier über dem Ozean austauschen. Wenn es denn welches gäbe, das über der Wasserwüste mit den Flügeln schlägt. Amphibien, Robben, Pinguine, alle pendeln problemlos zwischen Wasser und Land. Vögel, Fliegen, Schmetterlinge wohnen an Land und leben in der Luft. Und wer pendelt zwischen Wasser und Luft? Möwen? Knapp daneben – wenn sie auftauchen, wissen die Matrosen, dass die Küste nahe ist. Kein Vogel, kein Fluginsekt kommt ohne Heimatbasis auf festem Boden aus. Fliegende Fische? Nun ja, sie mögen keine wirklich überzeugenden Wanderer zwischen den Elementen sein. Aber sie und die Delphine sind die einzigen zwischen Wasser und Luft pendelnden Lebewesen, die ohne Landberührung auskommen (zugegeben: Im Zoo kommt noch der Killerwal dazu).

Zurück zum Ausgangsbild: Wenn es nicht der Flügelschlag des Schmetterlings, sondern der Flossenschlag des fliegenden Fisches wäre, der den Wirbelsturm auslöst, dann könnte er das auch tatsächlich mitten im Ozean tun. Das ist zwar extrem unwahrscheinlich, aber unter Bedingungen fern des Gleichgewichts durchaus möglich. Und von all den Milliarden von Wirbelstürmen, die es seit Entstehung der Erde gegeben hat, wird schon einer so oder so ähnlich entstanden sein. Nachprüfbar ist das nicht – die Verbindung eines Lebewesens mit Meteorologie hinterlässt keine bleibenden Spuren im Antlitz der Erde.

Bei den Verbindungen von Lebewesen untereinander ist das anders. Die Spur, die sie hinterlassen, heißt Evolution. Aber auch die hat ihre blinden Flecke. Warum um Darwins Willen hat sich trotz all der Jahre, die die Evolution Zeit hatte, aus dem fliegenden Fisch kein Schmetterling entwickelt? Das Leben entstand im Wasser, ging dann an Land und von da aus in die Luft. Warum dieser Umweg? Warum gab es nicht irgendwann irgendwo einmal einen fliegenden Fisch, der mit ein paar besonders kräftigen Flossenschlägen seinen Feinden davonfliegen konnte, um mit diesem Selektionsvorteil die Gattung der Schmetterlingsfische zu begründen? Es gab Hunderte von Millionen, ja Milliarden Jahre Zeit seit den ersten Einzellern. Warum ist da nichts draus geworden?


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 16. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 16

No. 16Oktober / November 1999

Von Detlef Gürtler

Detlef Gürtler, Jahrgang 1964, studierte Politische Wissenschaften. Er ist Wirtschaftsjournalist, zuletzt beim Magazin Econy, und lebt in Hamburg und Mallorca. Dies ist sein erster Beitrag in mare

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