Vision Impossible

Was ist aus den hochfliegenden Technikvisionen der 1960er geworden? Die Einsicht in die Grenzen des Wachstums ist ernüchternd

Am 14. September 1962 startet der französische Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau sein erstes Conshelf-Projekt vor der Küste von Marseille. In einer fünf Meter langen, tonnenartigen Unterwasserstation leben und arbeiten in elf Meter Tiefe sieben Tage lang die beiden Aquanauten Albert Falco und Claude Wesly. Die Station trägt den Namen „Diogenes“ und wird von außen über Schläuche mit Druckluft, Strom und heißem Wasser versorgt. 

Das Experiment birgt Risiken, aber es glückt. Schon im Juni 1963 lässt Cousteau das Projekt Conshelf II im Roten Meer folgen. Diesmal leben fünf Aquanauten vier Wochen lang in elf Meter Tiefe sowie zwei Männer eine Woche lang in 27 Meter Tiefe. Das Projekt besteht aus zwei Stationen, die bereits richtige Gebäude darstellen – inklusive einer Garage für ein Mini-U-Boot in Untertassenform. 

Im September 1965 geht es mit Con­shelf III und sechs Aquanauten vor der Küste Monacos weiter. Für Cousteau, der sich finanziell völlig verausgabt, ist das  Experiment „einer der ersten Schritte bei der wirtschaftlichen Nutzung des Meeresbodens durch den Menschen“. Damit definiert er ein klares Ziel. Der Meeresboden soll besiedelt und wirtschaftlich erschlossen werden. Conshelf IV und V, größer und tiefer denn je, sollen bald folgen. ­Submarine Siedler, so seine Vorstellung, sollen Bergbau betreiben und Fisch- und Algenfarmen unterhalten. Cousteau ist allerdings nicht der einzige submarine Städteplaner. Zu seinen Konkurrenten zählt etwa der Amerikaner Edwin Albert Link, der 1964 damit beginnt, Unter­wasser­habitate zu erproben.

Auch im Osten werden Cousteaus Forschungsprojekte verfolgt und als Herausforderung angesehen. Im Sommer 1965 installiert die Sowjetunion vor der Krim in 15 Meter Tiefe das für vier Aquanauten konzipierte Habitat Kitjesch. Im August 1966 folgt Ichthyander 66, wieder im Schwarzen Meer. Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien errichten ebenfalls submarine Habitate. Das größte, Tschernomor, wird von der UdSSR 1968 im Schwarzen Meer in 14 Meter Tiefe installiert. Es ist acht Meter lang und kann sechs Aquanauten für einen Monat beherbergen. In seinem Buch „Zukunft Weltmeer“, erschienen 1973 in Leipzig, bringt der DDR-Ingenieur Gottfried Kurze das Fernziel all dieser kostspieligen Projekte auf den Punkt: „Besiedlung der Ozeane“.

Am 14. Juli 1969, zwei Tage vor dem Start von „Apollo 11“ zum Mond, startet auch das von Jacques Piccard entworfene U-Boot „Ben Franklin“. Während die Saturn-V-Rakete in Cape Canaveral abhebt, sticht Piccard rund 220 Kilometer südlich in West Palm Beach in See. Der Schweizer Meeresforscher lässt sich mit weiteren fünf Teilnehmern vom Golfstrom treiben, um dessen Tiefenströmung besser zu verstehen. Das Forschungs-U-Boot hat er nicht von einer Werft bauen lassen, sondern vom Luft- und Raumfahrtunternehmen Grumman Aerospace Corporation. Diese Wahl ist kein Zufall, ebenso wenig die enge Zusammenarbeit mit der Nasa. Es geht nämlich nicht nur um den Golfstrom, sondern auch darum, Erfahrungen in Langzeitmissionen zu sammeln – unter Wasser wie im All. Das Leben an Bord eines U-Boots unterscheidet sich nur marginal von dem an Bord eines Raumschiffs. 

Als die „Ben Franklin“ nach 30 Tagen wieder auftaucht, erhält Piccard Besuch vom berühmten Raketeningenieur Wernher von Braun höchstpersönlich. Beide Männer sprechen dieselbe Sprache, auch wenn der eine zum Mars will, der andere zum Meeresboden. Astronauten und Aquanauten gehören im Space Age derselben Berufsgruppe an. 

Von den Raumfahrtpionieren Wernher von Braun, Konstantin Ziolkowski, Hermann Oberth oder Robert Goddard ist bekannt, dass sie ihre Inspiration der Science-Fiction verdanken. Als Jugendliche haben sie Jules Verne und Herbert George Wells gelesen, deren Vi­sio­nen sie unbedingt realisieren wollen. Die von der Science-Fiction entwickelten Zukunftsbilder, das belegen mittlerweile viele Studien, liefern uns nicht nur greifbare Vorstellungen von der Zukunft. Sie prägen auch Ziele von Wissenschaftlern und Ingenieuren. 

Auch die Idee, den Meeresboden nicht nur zu erforschen, sondern gleich auch zu besiedeln und umfassend ökonomisch zu nutzen, geht auf Zukunftsbilder aus der Science-Fiction zurück. Am Anfang steht wiederum Jules Verne, dessen Roman „20 000 Meilen unter dem Meer“ 1869 die Perspektive eröffnet, das Leben nahezu vollständig ins Meer zu verlagern. „Das Meer befriedigt meine Bedürfnisse vollkommen“, versichert Kapitän Nemo seinem Gast, Professor Aronnax. „Das Meer, diese üppige Nährmutter, schenkt mir nicht nur Nahrung, sondern auch Kleidung.“ Was auch immer an Bord der „Nautilus“ benötigt wird, Nemo gewinnt es aus dem Meer oder vom Meeresboden. 

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mare No. 154

mare No. 154Oktober / November 2022

Von Bernd Flessner und Günter Radtke

Mit der Vergangenheit der Zukunft beschäftigt sich Autor Bernd Flessner, Jahrgang 1957, praktisch ­täglich – er ist Zukunftsforscher an der Friedrich-­Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Günter Radtke (1920–2018) war der wichtigste Zeichner von Zukunftsvisionen in der Bundesrepublik.

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Günter Radtke (1920–2018) war der wichtigste Zeichner von Zukunftsvisionen in der Bundesrepublik.
Person Von Bernd Flessner und Günter Radtke
Vita Mit der Vergangenheit der Zukunft beschäftigt sich Autor Bernd Flessner, Jahrgang 1957, praktisch ­täglich – er ist Zukunftsforscher an der Friedrich-­Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

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