Villa Wissbegier

Ein junger Jenaer Biologe erfüllt sich 1874 einen Traum und begründet ein Forschungslabor in Neapel, die Stazione Zoologica Anton Dohrn. Nicht nur, dass er damit zu einem Pionier der Meeresforschung wird, er erfindet zugleich das Konzept eines interdi

Was haben der erste Bundespräsident Theodor Heuss, der Stettiner Zoologe Anton Dohrn, der Wuppertaler Maler Hans von Marées, das thüringische Apolda, der Zweite Weltkrieg und Neapels permanente Beinaheuntergänge gemeinsam? Und was hat all dies mit Europas damals größtem Aquarium in der Stazione Zoologica zu tun?

Dies ist eine lange Geschichte, doch erzählen wir sie von Anfang an. Erzählen wir sie aber vorerst quasi von außen, von ihrem (guten) Ende her. Tatsache nämlich ist, dass es selbst in den letzten Monaten vor dem weißen Prachtbau im Viertel Villa Comunale keine überquellenden Müllsäcke gegeben hat. Stattdessen lockt das Aquarium weiterhin Touristen an, und auch das angeschlossene Forschungsinstitut ist eine Topadresse für Meeresbiologen aus aller Welt geblieben, die hier etwa den Einfluss der Klimaerwärmung auf maritime Flora und Fauna studieren möchten. Wer heute auf die Website des Instituts (www.szn.it) klickt, wird dort Konferenzen und internationale Tagungen dazu annonciert finden, auch dies keine pure Selbstverständlichkeit in Italien, dessen Wissenschafts- und Kulturinstitutionen seit Langem unter Korruption und bürokratischer Misswirtschaft leiden. Doch das alte Lied vom stagnierenden, in sich verkapselten Mezzogiorno – in den lichtdurchfluteten, weiträumigen Gängen und Sälen der Stazione Zoologica wird es anscheinend nicht gesungen. Hat dies womöglich auch mit Anton Dohrn zu tun, nach dem sich die Stazione seit 1982 so stolz benennt? Höchste Zeit, einen kleinen Epochensprung zu wagen.

Am 6. Januar des Jahres 1870 hatte ein 30-jähriger promovierter Zoologe neben dem Kutschersitz eines Wagens, der schwerfällig von Apolda nach Jena ruckelte, ein Heurekaerlebnis, das sein ganzes Leben ändern sollte. Bislang nämlich hatte Anton Dohrn mit seinen maritimen Interessen quasi auf dem Trockenen gesessen, hatte zwar den Meereskrebsen in Schottland und Messina mehrere Abhandlungen gewidmet und war von der Fachwelt um Ernst Haeckel mit Lob bedacht worden, doch blieb dies mehr oder minder inkonsistente, brotlose Forscherei – umso mehr Dohrns wohlhabender Vater in der Südsehnsucht des Sohnes mehr Abenteuerlust als Wissenschaftsliebe vermutete und deshalb den Geldbeutel zugeschnürt ließ.

Doch nun, gerade aus Berlin zurückgekommen, wo er, von Charles Darwin beeinflusst und enthusiasmiert, das Novum von Alfred Brehms Aquarium bestaunt hatte, kam ihm die zündende Idee: „Wie ich so in Gedanken saß und der Wagen langsamen Schrittes die leicht ansteigende Straße in die Höhe fuhr, kam mir plötzlich der Gedanke: Die Zoologische Station ließe sich erreichen, wenn man am Mittelmeer, dem reichsten Meere Europas, ein großes Aquarium errichtet und mit der Einnahme desselben zugleich die Kosten des kleinen Laboratoriums deckt! Sofort empfand ich die ganze Tragweite des Gedankens und ward dadurch so aufgeregt, dass ich den Kutscher bat, stille zu halten und mich abspringen zu lassen. Ich wollte nun zu Fuß nach Jena gehen, denn ich brauchte physische Anstrengung, um die Aufregung zu meistern, die sich meiner bemächtigt hatte.“

Dies war nun weit mehr als die übliche Italienschwärmerei der Spätromantiker, die sich um Geld nie sonderlich sorgten. Anton Dohrn aber hatte sich, ein Jahrhundert bevor Begriffe wie Wissenschaftsbetrieb, Sponsoring oder Drittmitteleinwerbung gängig wurden, bereits kurz nach seinem Erweckungserlebnis auf die Suche nach Unterstützern seiner waghalsigen Idee begeben. Als er dann schon Ende Februar in Neapel auftaucht, hält er nichts weiter in den Händen als Notizen über verkäufliche Grundstücke in der Bucht am Golf. Kaum hatte er etwas gefunden (und dazu von Alfred Brehm und den Siemens-Brüdern technische Ratschläge erhalten, wie man Aquarien baut, abdichtet, Wassertemperaturen reguliert), holte ihn der chauvinistische Wahnsinn des Deutsch-Französischen Krieges aus seiner Aktivität.

Dohrn musste einrücken, hatte jedoch Glück und kam schon im nächsten Jahr unbeschadet zurück nach Neapel – und zwar in Begleitung des jungen Rudolf Virchow, der ihm in der Stadt so manche Türen öffnete, der die ungeschriebenen Gesetze des Südens kannte und dafür sorgte, dass keiner der Ortsansässigen im Neuzugang eine gefährliche Konkurrenz witterte.

Vielleicht aber sollten wir in dieser erzsympathischen Geschichte kurz innehalten, um endlich Theodor Heuss zu erwähnen, den nach 1949 so liebevoll „Bundespapa“ genannten ersten Bundespräsidenten. Nach 1933 als Liberaler politisch kaltgestellt, hatte er sich mit seiner Frau ins innere Exil zurückgezogen und als Publizist über unverfängliche Themen veröffentlicht. Eine jener Brotarbeiten war eine Biografie über Anton Dohrn, die – im Kriegsjahr 1940 unter den misstrauischen Augen der Zensur veröffentlicht – gleichwohl einen Eindruck davon gibt, wie wenig ihr Autor von gewaltbereiten Plattitüden à la „Triumph des Willens“ oder einem vulgärdarwinistischen „Recht des Stärkeren“ hielt, wie sehr er dafür jedoch individuelle Gewitztheit und humanen Forscherdrang schätzte. Die Detailfülle von Heuss’ längst vergriffenem, doch noch heute lesbarem Buch verdankt sich nicht zuletzt seiner Freundschaft mit Boguslav Dohrn, einem der Söhne des Stazione-Gründers.


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mare No. 94

No. 94Oktober / November 2012

Von Marko Martin

Marko Martin lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. Zuletzt erschien sein Erzählband Schlafende Hunde in der Anderen Bibliothek bei Eichborn.

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Vita Marko Martin lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. Zuletzt erschien sein Erzählband Schlafende Hunde in der Anderen Bibliothek bei Eichborn.
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Vita Marko Martin lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. Zuletzt erschien sein Erzählband Schlafende Hunde in der Anderen Bibliothek bei Eichborn.
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