Verdammtes Öl

16 Jahre nach einer erschütternden Reportage schaut mare zurück auf die Lage der Menschen im ölverseuchten Nigerdelta. Die Bilanz ist bitter

Der enge Seitenarm des Flusses führt tief in die Sümpfe, unser Kanu kommt nur langsam voran. An den Ufern wuchern üppige Farne, Lianen, Bambusstauden, scharfstachelige Gewächse, überschattet von Urwaldbäumen mit mannshohen Brettwurzeln. Aus dem Blätterdach dringt das Sirren der Zikaden, manchmal ist das Knarzen von Hornschnäblern und Papageien zu hören. Ein unberührtes Paradies, denkt man, wild und schön wie auf den Gemälden Henri Rousseaus – wäre da nicht das ferne Knattern einer Kettensäge. 

Nach einer halben Stunde wird es kirchenstill. „Wir nähern uns der Stelle“, kündigt Keke Ziworitin an, ein Fischer, der unser Boot steuert. Plötzlich steigt ein penetranter Geruch in die Nase. Nach Wagenschmiere riecht es, nach Autowerkstatt und Getriebeöl. Dann schweben die ersten schwarzen Klumpen heran, eine zähe Masse, unlöslich wie in einer Emulsion. Und allmählich färbt sich das braune Wasser tiefschwarz, ein in allen Spektralfarben schillernder Film überzieht die Oberfläche. Wir gleiten über einen Ölsee, verklebte, ins Wasser hängende Äste versperren die Fahrrinne. Ziworitin schlägt sie mit seiner Machete ab, damit sie nicht die Kleidung verschmutzen. 

Unversehens tauchen hinter uns zwei Frauen in einem Einbaum auf. Sie erzählen, dass sie alle zwei, drei Tage hierher paddeln, um die Fischreusen zu kontrollieren und Krabben und Schnecken zu sammeln. „Aber jetzt gibt es hier keine Fische mehr. Alles ist tot!“, ruft die ältere der beiden Frauen. In einer Geste hilflosen Zorns reckt sie die Arme zum Himmel.

Ein schwüler Tag im November 2010. Es ist die dritte Recherchereise, die mich als Afrikakorrespondent ins Nigerdelta führt, und zum ersten Mal sehe ich in der Nähe des Dorfs Okpotuwari das volle Ausmaß einer Ölpest. Die Dorfbewohner kennen die Ursache: eine undichte Pipeline, aus der seit Monaten Zehntausende Liter Rohöl auslaufen. Aber sie können nichts dagegen tun. Hilflos müssen sie zuschauen, wie die Flussläufe absterben. Wie der pechschwarze Schlick ihre Gärten und Äcker erstickt. Wie ihre Existenzgrund­lagen vernichtet werden.

Okpotuwari ist kein Ausnahmefall im Nigerdelta. Die Bevölkerung leidet unter den Kollateralschäden, die die Ölförderung durch multinationale Konzerne wie Shell, ExxonMobil, Chevron, Total, Elf oder Agip seit Jahrzehnten verursacht. Die genaue Zahl der „Betriebsunfälle“ ist unbekannt. Allein in den letzten vier Jahren seien 3400 Lecks in Pipelines, Pumpstationen und Anlagen registriert worden, sagte Nnimmo Bassey. Das ist keine Übertreibung, sondern die offizielle Schätzung des nigerianischen Umweltministeriums. 

Wir trafen Bassey vor der Fahrt ins Delta in der Wirtschaftsmetropole Lagos. Der Schriftsteller und Aktivist setzt sich an der Spitze der Umweltorganisation Environmental Rights Action (ERA) für die Rechte der Bevölkerung ein, für sein Engagement wurde er mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt. Bassey hat hochgerechnet, dass jedes Jahr bis zu 44 Millionen Liter Rohöl auslaufen. 

Damit man sich unter dieser Menge etwas vorstellen kann, verweist er auf das Tanker­unglück vor Alaska 1989. „Das entspricht einer ‚Exxon Valdez‘ im Jahr.“ Infolge der Havarie des Supertankers wurden 2000 Kilo­meter Küste verseucht, die Flora und Fauna des Meeres hat sich bis heute nicht davon erholt. Das Nigerdelta, laut Weltbank das „größte und komplexeste Süßwasserökosystem Westafrikas“, zählt zu den meistverschmutzten Orten der Erde, 2013 hat es das Blacksmith Institute in New York erstmals in die Liste der weltweiten Top 10 aufgenommen. 

In unserem Kanu sitzt auch Alagoa Morris, ein pensionierter Beamter und Aktivist, der das Desaster südlich von Okpotuwari im Auftrag der Umweltorganisation ERA dokumentiert hat. Im Feldbericht Nr. 249 schreibt er, dass die Dorfbewohner das jüngste Leck in der letzten Augustwoche gemeldet haben. Ende Oktober konnte er sich erstmals selbst ein Bild machen und Agip Nigeria als Verursacher benennen, einen Ableger des italienischen Energiekonzerns ENI. Aus den Pipelines der Firma, die hinaus in das Atlantikterminal Brass führen, ströme seit zwei Monaten eine unbekannte Menge Rohöl und verschmutze die Gewässer und Böden in Ogunugbene, Okpotuwari und weiteren Gemeinden, heißt es im Report. Damit der Ort des Geschehens nicht verwechselt wird, sind die genauen Koordinaten angegeben: 4º 57' Nord, 6º 20' Ost. 

„Die geborstene Pipeline ist ein paar Kilometer von hier entfernt. Aber wir können nicht hinpaddeln“, warnt Morris. Weil sich dort militante Banden herumtreiben, die das auslaufende Öl stehlen. Und weil unser wackliges Gefährt im Ölschlamm kentern könnte. Auch Ziworitin, der Fischer, drängt zur Umkehr. Schweigend bugsiert er das Boot durch das dystopisch anmutende Sumpfland. Unvergesslich der letzte Eindruck: Ein ölverklebter Krebs krabbelt aus der Brühe und versucht, sich auf eine Mangrovenstelze zu retten.

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mare No. 154

mare No. 154Oktober / November 2022

Von Bartholomäus Grill und Akintunde Akinleye

Bartholomäus Grill, Jahrgang 1954, ist ehemaliger Afrikakorrespondent der „Zeit“ und des „Spiegels“. In seinem neuen Buch „Afrika! Rückblicke in die Zukunft eines Kontinents“ bilanziert er seine Erfahrungen aus nahezu vier Jahrzehnten.

Akintunde Akinleye, Jahrgang 1971, ist Fotojournalist und ehemaliger Reuters-Fotograf, der über West­afrika berichtete und mit seinen eindringlichen Fotografien die postkoloniale Geschichte Nigerias dokumentierte. Derzeit erwirbt er einen Doktortitel in Anthropologie an der Carleton University in Ottawa, Kanada.

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Vita Bartholomäus Grill, Jahrgang 1954, ist ehemaliger Afrikakorrespondent der „Zeit“ und des „Spiegels“. In seinem neuen Buch „Afrika! Rückblicke in die Zukunft eines Kontinents“ bilanziert er seine Erfahrungen aus nahezu vier Jahrzehnten.

Akintunde Akinleye, Jahrgang 1971, ist Fotojournalist und ehemaliger Reuters-Fotograf, der über West­afrika berichtete und mit seinen eindringlichen Fotografien die postkoloniale Geschichte Nigerias dokumentierte. Derzeit erwirbt er einen Doktortitel in Anthropologie an der Carleton University in Ottawa, Kanada.
Person Von Bartholomäus Grill und Akintunde Akinleye
Vita Bartholomäus Grill, Jahrgang 1954, ist ehemaliger Afrikakorrespondent der „Zeit“ und des „Spiegels“. In seinem neuen Buch „Afrika! Rückblicke in die Zukunft eines Kontinents“ bilanziert er seine Erfahrungen aus nahezu vier Jahrzehnten.

Akintunde Akinleye, Jahrgang 1971, ist Fotojournalist und ehemaliger Reuters-Fotograf, der über West­afrika berichtete und mit seinen eindringlichen Fotografien die postkoloniale Geschichte Nigerias dokumentierte. Derzeit erwirbt er einen Doktortitel in Anthropologie an der Carleton University in Ottawa, Kanada.
Person Von Bartholomäus Grill und Akintunde Akinleye