Unser Auge im Dunklen

Niemand zeigt den „innerirdischen Weltraum“ besser als der US-Fotograf Emory Kristof

Das Wrack der „Titanic“ erstrahlt im Scheinwerferlicht. Der Blick streift über bröckelnde Stahlmassen und die kunstvoll verschnörkelte Lehne einer Deckbank und bleibt am schimmernden Porzellan einer Toilettenschüssel hängen. Weiß wie Eiszapfen tropft der zu Stalaktiten erstarrte Rost vom Metall. Ein Bullauge, die Scheibe heil, ist angelehnt. Jahrzehnte schwinden. Die Choreographie von Licht und Kameras bringt die Botschaft vergangenen Glanzes und menschlicher Hybris. 14 Minuten lang taucht der Zuschauer zum Totenschiff am Meeresboden. Zurück bleiben Eindrücke, wie sie kein Hollywood-Epos vermittelt.

Regisseur, Drehbuchautor und Kameramann des mitreißenden Kurzfilms ist der Tiefseefotograf Emory Kristof. Der 3D-Imax-Film von der „Titanic“ wird als bis-heriger Höhepunkt seines Lebenswerks gefeiert. Der Mitarbeiter der National Geo- graphic Society hatte sich bereits in jungen Jahren ein hohes Ziel gesteckt: Neuland in den Meeren zu erobern und Bilder von seinen Feldzügen heimzubringen. Nicht die „Cousteau-Schicht“ interessierte ihn, jene ersten hundert Meter unter der Meeresoberfläche, die bereits gründlich erforscht wurden. Seine Abenteuerlust hat ihn in die unbekannteren, tieferen Meeresregionen gelockt.

Heute kann der 56jährige mit Stolz behaupten, sein Ziel erreicht zu haben. Denn niemand hat uns die Welt der Tiefsee so nahegebracht wie Kristof. Ob versunkene Wracks, skurrile geologische Formationen oder die faszinierende Vielfalt der Lebewesen in den dunklen Teilen der Meere – meist war es Kristof, der die aufregenden Funde zuerst in Fotos und Filmen dokumentierte.

„Ich habe die Tiefsee zu meinem Studio gemacht“, stellt Kristof zufrieden fest. Äußerlich paßt er eher aufs Meer als unter die Meeresoberfläche. Der Vollbart und die sonore Stimme, deren Lautstärke in den häufigen Momenten der Begeisterung trompetenhaft ansteigt, erinnern an einen Seemann wie im Bilderbuch. Seine Länge kommt ihm in der Enge der Tauchboote, die für ihn zur zweiten Heimat geworden sind, höchst ungelegen. „Dennoch“, vermutet er, „hat niemand so viele Tauchboote von innen gesehen wie ich.“ Allein um die „Titanic“-Aufnahmen zu machen, reiste er viermal zum Meeresboden und verbrachte insgesamt fünfzig Stunden an Bord der russischen „Mir“. Nicht der Raumstation, sondern dem Tauchboot „Mir“, das „den innerirdischen Weltraum“ bereist.

Das Filmen der „Titanic“ vier Kilometer unter der Meeresoberfläche sollte eine seiner größten technischen Herausforderungen werden. In gewohnter Manier suchte Kristof sich das beste Rüstzeug für die Expedition aus aller Welt zusammen. Er lieh sich die Zwillingsboote „Mir 1“ und „Mir 2“ samt ihrem Piloten Anatoli Sagalewitsch von den Russen aus. Von den Deutschen übernahm er leistungsstarke HMI-Scheinwerfer, die bislang nur bei Dreharbeiten auf dem Trockenen zum Einsatz kamen. Die „Mir“-Zwillinge, behauptet Kristof, seien die „Ferraris“ der Tauchboote. Dank Batterien, die mehr als doppelt so stark wie die des berühmten amerikanischen Tauchboots „Alvin“ sind, können sie 24 Stunden unter Wasser verbringen. Ein nicht zu unterschätzender Vorzug, denn jede zusätzliche Minute zählt. Schon die Reisezeit von und zur „Titanic“ zählt jeweils zweieinhalb Stunden – „fünf Stunden im Aufzug“, heißt es im Jargon der Taucher.

Jedes der Boote ließ Kristof mit vier der Scheinwerfer, die normalerweise in der Filmindustrie eingesetzt werden, ausrüsten. An jeweils zwei ausfaltbare Arme montiert, beleuchten sie das untermeerische Panorama mit fünffach höherer Lichtstärke als die bislang verwandten Quarzlichter – bei gleichem Batterieverbrauch. Zwei elektronisch synchronisierte Videokameras, zehn Zentimeter voneinander entfernt, zaubern den räumlichen Effekt, der die phantastische Szene zum Greifen nahe bringt. Der Rest ist Choreographie: Zwei Tänzern gleich bewegen sich die russischen Tauchboote im Raum, derweil sie sich ihr Scheinwerferlicht gegenseitig zuspielen. Sie lassen die Ausmaße des Wracks erahnen, über das sie wie Insekten huschen, und sorgen für cineastische Höhepunkte, wenn sie als Meeresungeheuer mit flammenden Augen unversehens aus der Tiefe des Dunkels auftauchen.

Das filmische Meisterstück hat mittlerweile zahlreiche Besucher in amerikanischen und europäischen Imax-Kinos in Staunen versetzt. Es hat zudem einen berühmten Nachahmer gefunden. Der Film inspirierte den Regisseur James Cameron, die russischen Tauchboote und ihr Mutterschiff für seine zelebrierte Hollywood-Version der „Titanic“ einzusetzen.

Kristof selbst hingegen sieht seinen „Titanic“-Erfolg vollkommen nüchtern. „Nicht mehr als ausgeklügelte Technik und ein schlauer Karriereschritt“ sei das Projekt gewesen. „Ich sehe in den Metallmassen da unten nur eine zerbrochene Maschine“, bekennt er. Seine Gefühle gehören nicht der toten Welt der Meere, sondern der lebenden. Für sie hat er die Grenzen des technisch Machbaren immer wieder erweitert. Während andere „unser gesamtes Wissen – von Satellitennavigation bis Echolot-Ortung – verwenden, um die Meere auszubeuten“, möchte er „die Technik entwickeln, mit der wir das Leben in den Meeren erst kennenlernen“.

Wenn es darum geht, das notwendige Werkzeug für seine verwegenen Aufträge zu beschaffen, kennt er keine Grenzen. Zeit, Gelder und Tüftelarbeit, die in seine Projekte fließen, gelten als legendär. Ihm steht eine gewaltige Werkstatt in den Kellerräumen der Zentrale der „National Geographic Society“ in der Innenstadt von Washington zur Verfügung. Im Gegensatz zu den oberirdischen Etagen des Gebäudes, die mit ihrem modernen Auditorium, einem Museum und den Redaktionsräumen des weltweit vertriebenen Magazins „National Geographic“ kühles Geschäftsimage ausstrahlen, herrscht hier unten klassische Entdeckeratmosphäre. Tauchroboter und -anzüge, Kameras, Kameragehäuse, Scheinwerfer, Batterien, Linsen und Bojen sowie Ausrüstungen für Expeditionen auf dem Trockenen liegen wild verstreut auf Tischen und Böden. Hier wird einerseits gehämmert, gelötet und geschweißt und andererseits die Fototechnik der Zukunft am Computer entworfen.

Bei einem Gang durch die Werkstatt stellt Kristof diejenigen seiner Schöpfungen vor, auf die er besonders stolz ist. Dort steht der tragbare Tauchroboter „Geek“, den er für einen Ölkonzern entwickelte, und der später dem Entschärfen von Minen im Persischen Golf diente. Etwas dümmlich glotzt „Goober“ aus seinen Scheinwerferaugen; er spielte eine Starrolle im Tiefseehorrorstreifen „Abyss“. „RopeCam“, die Kamera am Seil, hat in den letzten Jahren immer wieder Erstaunliches geleistet: Sie hat zum Beispiel in 250 Meter Meerestiefe höchst eigenständig einen Schnappschuß von einem gewaltigen Hai gemacht. Das Foto hängt als riesiges Poster an der Wand.

Eine besondere Gabe Kristofs ist es, sich Materialien zunutze zu machen, die ursprünglich einem gänzlich anderen Zweck dienten. Neben den HMI-Leuchten erprobte er in seinem Untermeeresstudio auch schon mal die Landescheinwerfer einer Boeing 747. In der Chefetage erzeugen derlei Extravaganzen zuweilen Stirnrunzeln – „die Geschichte ging um, ich hätte eine 747 gekauft, nur um die Scheinwerfer abzumontieren“ –, aber man läßt ihn im allgemeinen gewähren. Auch seine Weise, bei der Suche nach der besten

Technologie ideologische und nationale Empfindlichkeiten zu ignorieren, erregte zuweilen Aufsehen. So arbeitete er bereits während des Kalten Krieges mit Sagalewitsch zusammen, als dieser noch die gesamte Flotte sowjetischer Tiefseetauchboote befehligte. Nachdem Kristof den Kollegen aus Moskau zu einem Expertenaustausch nach Washington eingeladen hatte, erhielt er eine Rüge vom Pentagon – man befürchtete Spionage.

Seinen Hang zum Basteln und Tüfteln entdeckte Kristof bereits in seiner Kindheit. Als Jugendlicher verehrte er nicht Rockstars, seine Helden waren die Taucher Hans Hass und Jacques Cousteau. Mit vierzehn bastelte er sich seine erste Tauchausrüstung. Heute weiß er nur noch, daß er einen Gartenschlauch und eine Wärmflasche für das Projekt zweckentfremdete. Seine Erfindungen testete er im öffentlichen Freibad. Einem verständnisvollen Professor verdankt er es, daß er 1964 nach einem Journalistikstudium eine der heißbegehrten Praktikantenstellen als Fotoassistent bei der „National Geographic Society“ bekam.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 13. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 13

No. 13April / Mai 1999

Von Sophia Wald

Sophia Wald, Jahrgang 1954, lebt als freie Wissenschaftsjournalistin in Washington, D.C. In mare schrieb sie zuletzt über das National Museum of Natural History in der US-Hauptstadt: „Wenn der Vorhang fällt“ (Heft 3)

Mehr Informationen
Vita Sophia Wald, Jahrgang 1954, lebt als freie Wissenschaftsjournalistin in Washington, D.C. In mare schrieb sie zuletzt über das National Museum of Natural History in der US-Hauptstadt: „Wenn der Vorhang fällt“ (Heft 3)
Person Von Sophia Wald
Vita Sophia Wald, Jahrgang 1954, lebt als freie Wissenschaftsjournalistin in Washington, D.C. In mare schrieb sie zuletzt über das National Museum of Natural History in der US-Hauptstadt: „Wenn der Vorhang fällt“ (Heft 3)
Person Von Sophia Wald