Turm, Pferd, Dame

Eine spektakuläre Veranstaltung mit einer fragwürdigen Tradition: Die Diving Horses an der Strandpromenade von Atlantic City in New Jersey scheiden die Geister seit mehr als 100 Jahren

Eine gewaltige Holzkonstruktion ist zu sehen, eine Treppe, die mehrere Stockwerke hinaufführt. Etwas Dunkles, Großes huscht über Treppe, in Begleitung eines Mannes. Oben auf der Plattform angekommen, steht das dunkle Etwas. Wir erkennen es nun. Ein Pferd. Ein Mensch springt auf das Pferd, eine Frau in Badeanzug und Badekappe, sie reitet ein Stück an den Rand des Turmes. Dort stehen Pferd und Reiterin, vor ihnen der Abgrund, zwölf Meter tief. Auf Fotos sind Menschenmassen zu sehen, die auf Tribünen sitzen und darauf warten, was nun passieren wird. Das Pferd braucht noch etwas Zeit. Es tänzelt. Es nickt mit dem Kopf, als wüsste es, wie sehr die Zuschauer auf den Augenblick warten.

Dann springen sie, Pferd und Reiterin. Weg vom Turm. In die Tiefe. Und sie fallen ins Wasser. Denn unten, nach den etlichen Metern Sprung, steht ein Becken, vier Meter tief. Der Pferdekopf klatscht zuerst aufs Wasser, dann der Körper, eine gewaltige Welle spritzt aus dem runden Pool, die Reiterin sitzt noch immer auf dem Pferd. Sie winkt. Das Publikum rast und nimmt das Versprechen eines endlosen Sommers am Meer mit nach Hause. Alles ist möglich, wenn sogar Pferde sich aus der Höhe in einen Pool stürzen.

Die turmspringenden Pferde, die „High Diving Horses“, waren die berühmteste Attraktion unter den an Attraktionen nicht eben armen Shows in Atlantic City. Viele Jahrzehnte begeisterten sie die Zuschauer mit ihren Sprüngen ins Becken am Ende des 600 Meter langen Steel Pier, der „Amüsierstadt am Meer“. Alles daran war verrückt, und genau darin lag die Spannung. Es versprach Kühnheit und Abenteuer, die Überwindung der Grenzen. Die Amerikaner liebten die Show. Ron Hoke aus Sellerville, Pennsylvania, erinnerte sich an seine Kindheit: „Zum ersten Mal den Ozean zu sehen und am gleichen Tag das zu erleben, das hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt.“

Im Frühjahr 2012 wurde der bisher letzte Versuch gestartet, die Diving Horses wieder zu zeigen. Der Besitzer der stählernen Seebrücke, Anthony Catanoso, wollte im Sommer eine neue Show mit Pferden starten – als Teil der Wiederbelebung des Steel Pier. Die Diving Horses seien einzigartig, geschichtsträchtig und sehr populär, sagte Catanoso und fügte vorsorglich hinzu, man werde die Pferde „wie Gold behandeln“. Die Show mit den Pferden sollte weniger als zehn Dollar kosten, Familienunterhaltung, gerne für Kinder. Atlantic City will schon länger weg vom Image der verkommenen, gewalttätigen Spielerstadt.

Ein Aufschrei der Entrüstung folgte. Tierschützer und Pferdeliebhaber überall in den Vereinigten Staaten protestierten lautstark, „ein grausamer Akt“ war noch eine harmlose Äußerung. Man wünschte Catanoso erdenklich Schlechtes an den Hals, auch solle er mit Unterstützung eines Viehtreibers selbst vom Sprungturm gestoßen werden. Die Pläne zur Wiederbelebung des Boardwalk, der Strandpromenade von Atlantic City, gingen unter in der Aufregung über die Pferde. Nach nur wenigen Tagen ruderten die Catanosos zurück. Akrobaten am Steel Pier: ja; Turmspringer: ja. Aber keine springenden Pferde. Catanosos Kommentar zum Ende: „Vielleicht ist es etwas, das in der Vergangenheit bleiben und in der Erinnerung leben sollte.“

Erfunden hat die Diving Horses William Frank „Doc“ Carver, ein Zahnarzt, Westerner und Geschichtenerzähler. Carver ritt eine Weile mit Buffalo Bill Cody, Wild Bill Hickok und anderen, ein Kunstschütze, der es liebte, vor Publikum auf Glaskugeln, Münzen oder lebende Vögel zu schießen. In den 1870er Jahren gründete er Wild-West-Shows, die durch Amerika und Europa tingelten, 1890 etwa trat Carver in Hamburg auf und stach Buffalo Bill aus, der kurz darauf eintraf; die zwei waren mittlerweile verfeindet.

1894, im Rahmen einer kleineren Show mit Tieren und Schützen, waren zum ersten Mal die Diving Horses zu sehen. Carver hat verschiedene Geschichten erzählt, wie er auf die Idee kam, stets mit ihm im Mittelpunkt: eine Flucht vor Banditen, die ihn samt Pferd in einen Fluss springen ließ. Oder eine zusammenbrechende Brücke, von der es für Ross und Reiter nur eine Rettung gab – springen.

Die umherreisende „Great Carver Show“ war populär, bald gab es nur noch die springenden Pferde. Carvers Tochter Lorena war die erste Reiterin, sie sprang auf das Pferd ihres Vaters, Silver King. Der hölzerne Sprungturm und der Pool wurden aufgebaut, sechsmal täglich fand die Show statt, dann ging es in die nächste Stadt, fast 30 Jahre lang. Carvers Sohn Al trainierte und betreute die Pferde.


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mare No. 98

No. 98Juni / Juli 2013

Von Holger Kreitling

Holger Kreitling, geboren 1964, Redakteur der WELT, mag eigentlich Pferde überhaupt nicht. Als Turmspringer ist er nicht über ein paar von ihm als mutig empfundene Versuche vom Fünf-Meter-Brett hinaus- gekommen. Zehn Meter? Nie!

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Vita Holger Kreitling, geboren 1964, Redakteur der WELT, mag eigentlich Pferde überhaupt nicht. Als Turmspringer ist er nicht über ein paar von ihm als mutig empfundene Versuche vom Fünf-Meter-Brett hinaus- gekommen. Zehn Meter? Nie!
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Vita Holger Kreitling, geboren 1964, Redakteur der WELT, mag eigentlich Pferde überhaupt nicht. Als Turmspringer ist er nicht über ein paar von ihm als mutig empfundene Versuche vom Fünf-Meter-Brett hinaus- gekommen. Zehn Meter? Nie!
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