Tunnelblicker

Ingenieure lieben Visionen: Vor 100 Jahren planten einige einen Tunnel durch den Atlantik. Das Projekt ist noch nicht vom Tisch

„In einer Wolke von Öl, Hitze und Rauch stehen vier finstere Maschinen auf funkelnagelneuen Schienen und warten und qualmen. Vor ihren Rädern blitzen Schaufeln und Picken. Die vier schwarzen Maschinen bewegen die Stahlgelenke, drei-, viermal, und schon sind sie wieder bei den blitzenden Schaufeln und Picken angelangt. So wandern die vier Maschinen jeden Tag vorwärts, zermalmen den Berg in den atlantischen Stollen, eskortiert von einem hunderttausendköpfigen Arbeiterheer.“

Es sind Sätze aus dem Roman „Der Tunnel“ des deutschen Schriftstellers Bernhard Kellermann. Darin geht es um ein kühnes, geradezu ungeheuerliches Projekt: den Bau eines Tunnels unter dem Atlantik. Er soll Nordamerika mit Europa verbinden. Das Buch, das 1913 in den Handel kommt, trifft den Nerv der Zeit. Innerhalb von nur sechs Monaten werden 100 000 Exemplare verkauft. In Deutschlands Wohnzimmern und Kaffeehäusern wird heftig diskutiert: Eine unterseeische Verbindung von New York nach London, ist das realistisch?

Ja, es ist, zumindest in Kellermanns Roman. Anschaulich beschreibt der Autor, wie sich von fünf verschiedenen Orten Westeuropas und der Ostküste der USA aus riesige Baumaschinen durch den Felsen unter dem Meeresboden bohren. Monströse Wasserkraftwerke erzeugen den Strom, „um die ungeheuren Stollen zu beleuchten und zu belüften“. An den Einfahrten in die Tunnelbaustellen wachsen ganze Städte in den Himmel. „Die Maschinenfabriken Amerikas und Europas arbeiten mit Überschichten. Die Kohlenzechen beschleunigen die Förderung, um den erhöhten Kohlenbedarf für Transport und Hochöfen zu decken.“

Die Leser sind nicht nur begeistert von der Idee des Atlantiktunnels, sondern auch von dem ungewöhnlichen, kollageartigen Schreibstil des Autors. Kellermann wählt kurze Sätze und präzise Metaphern, benutzt Klammern, wechselt immer wieder ins Englische, berichtet wie ein Reporter. Andere technisch-utopische Romane – der Gattungsname „Science-Fiction“ ist zu dieser Zeit noch nicht gebräuchlich – wirken auf einmal antiquiert.

Hauptfigur des Romans ist der junge Ingenieur Mac Allan, der die Idee für den Tunnel hat und gleichzeitig der Erfinder des stahlähnlichen, fast diamantharten Materials „Allanit“ ist, das den Bau überhaupt erst ermöglicht. Finanziert wird

die größte Baustelle der Welt von einem US-Industriemagnaten und einem Tunnelsyndikat. 15 Jahre Bauzeit sind veranschlagt, dann sollen Züge mit fast 300 Kilometern in der Stunde zwischen Europa und Nordamerika pendeln.

Kellermann stellt in seinem Roman immer wieder die Frage nach dem Sinn eines solchen Projekts, schließlich sind Aufwand und Kosten unvorstellbar hoch. Die Antwort ist ein magisches Wort der Moderne, das eigentlich keiner weiteren Erklärung bedarf: Zeit. So lässt Kellermann an einer Stelle im Buch den amerikanischen Verkehrsminister sagen: „Der Tunnel bedeutet für jeden Geschäftsmann ein geschenktes Lebensjahr an ersparter Zeit.“

Es kommt zu einer Explosion auf der Baustelle, der Geldgeber macht Bankrott, und die Hauptfigur durchlebt eine Krise. Doch nach 26 Jahren wird die Vision endlich wahr. Der erste Zug gleitet in den Tunnel, die Lokomotive ist ultramodern und stromlinienförmig wie „ein Torpedoboot mit zwei runden Augen am scharfen Bug“, die Jungfernfahrt ein sensationeller Erfolg. „Der Zug fliegt durch die Stollen, legt sich in den Kurven zur Seite wie eine meisterhaft konstruierte Segeljacht.“

Die Grundidee für den Bau eines Atlantiktunnels stammt nicht von Bernhard Kellermann selbst, der auch kein utopischer Genreautor ist und bislang vorwiegend Reiseliteratur wie „Das Meer“ (1910) oder „Ein Spaziergang in Japan“ (1910) verfasst hat. Er lotet die Idee jedoch erstmals umfassend aus und denkt sie zu Ende. Dabei rückt er den technischen und logistischen Aufwand in den Vordergrund, der das Schicksal der Menschen voll und ganz bestimmt. Der Ingenieur Mac Allan, seine Familie und Freunde sowie die namenlosen Arbeiter werden zu Spielbällen eines Systems, in dem es darum geht, wirtschaftliche Prozesse permanent und gewinnbringend zu beschleunigen und ebenso permanent die Grenzen des technisch Machbaren neu zu definieren.

Der Traum von unterseeischen Verbindungen ist zu diesem Zeitpunkt bereits über 150 Jahre alt. Schon im 18. Jahrhundert gibt es Überlegungen, zwischen Frankreich und England einen Tunnel unter dem Meer zu graben. Einer der ersten Vorschläge dazu stammt vom französischen Finanzminister Nicolas Desmarets aus dem Jahr 1751.

Sein Landsmann Albert Mathieu, ein Bergbauingenieur, greift die Idee auf und entwirft 1802 einen Tunnel für Pferdewagen. Kerzen sollen Licht spenden und Kamine, die über die Wasseroberfläche hinausragen, für die Belüftung sorgen. Sogar Napoleon gefällt der Plan und schlägt ihn dem britischen Parlamentsvertreter Charles James Fox vor, als Symbol des Friedens zwischen beiden Nationen. Auch Napoleon III. unterstützt die Idee.

Doch erst 1872 sind England und Frankreich so weit, den Bau zu wagen, und gründen die Submarine Continental Railway Company. Geplant ist ein 37 Kilometer langer Eisenbahntunnel. Man lässt bereits Versuchsstollen graben, als der britische Oberbefehlshaber in letzter Minute das Unternehmen stoppt. Die Gefahr einer Invasion ist ihm einfach zu groß.

Dass Tunnel dieser Art im Prinzip tatsächlich technisch machbar sind, zeigt indes der knapp 3,2 Kilometer lange, 1882 fertiggestellte Straßentunnel unter dem Col de Tende an der französisch-italienischen Grenze, dem 1898 ein über acht Kilometer langer Eisenbahntunnel folgt. Neuartige Stahlträger und vor allem Alfred Nobels Erfindung des Dynamits 1866 – der erste technisch handhabbare Sprengstoff, der deutlich stärker ist als das Schwarzpulver – lassen Ingenieurträume wahr werden.

Beflügelt wird aber auch die Fantasie von Michel Verne, dem über viele Jahre ungeliebten Sohn von Jules Verne, mit dem sich der Vater erst am Ende seines Lebens arrangiert. Michel Verne setzt die Arbeit seines Vaters fort, vollendet angefangene Projekte und verfasst eigene Werke, die jedoch meist unter dem Namen des weltberühmten Vaters erscheinen, so auch die 1888 entstandene Novelle „Un Express de l’avenir“. Sie berichtet von der Begegnung des Erzählers mit Colonel Pierce, dem Gründer und Initiator der Boston to Liverpool Pneumatic Tubes Company.

Pierce lässt keinen Tunnel graben, sondern von 200 Schiffen eine stählerne Röhre auf dem Meeresgrund verlegen. Vorbild sind die Transatlantikkabel, die seit 1857 eine telegrafische Verbindung zwischen den USA und Europa ermöglichen. Statt eines auf Schienen fahrenden Zuges schießt Verne junior projektilförmige Zylinder wie Rohrpostkartuschen per Luftdruck und mit 1800 Kilometern je Stunde durch den Stahltunnel. „Zwei Stunden und 40 Minuten benötigen Sie für die Reise von Boston nach Liverpool“, erklärt Erfinder Pierce. Die fensterlosen, luxuriös eingerichteten Kapseln rasen ruhig und ohne spürbare Erschütterungen durchs Rohr.


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mare No. 88

No. 88Oktober / November 2011

Von Bernd Flessner

Als Bernd Flessner, Jahrgang 1957, Autor im mittelfränkischen Uehlfeld, ein kleiner Junge war, gehörte die Zeitschrift hobby. Das Magazin der Technik zu seiner Lieblingslektüre. Dort fanden sich zahlreiche Berichte über kühne Technikprojekte, darunter über Unterseetunnel (Ausgabe 1/1956). Kontinente, so heißt es dort, würden in Zukunft durch Tunnel verbunden sein. Bis heute verfolgt Flessner, was aus den Ideen von damals geworden ist und welches Zukunftspotenzial sie noch immer haben.

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Vita Als Bernd Flessner, Jahrgang 1957, Autor im mittelfränkischen Uehlfeld, ein kleiner Junge war, gehörte die Zeitschrift hobby. Das Magazin der Technik zu seiner Lieblingslektüre. Dort fanden sich zahlreiche Berichte über kühne Technikprojekte, darunter über Unterseetunnel (Ausgabe 1/1956). Kontinente, so heißt es dort, würden in Zukunft durch Tunnel verbunden sein. Bis heute verfolgt Flessner, was aus den Ideen von damals geworden ist und welches Zukunftspotenzial sie noch immer haben.
Person Von Bernd Flessner
Vita Als Bernd Flessner, Jahrgang 1957, Autor im mittelfränkischen Uehlfeld, ein kleiner Junge war, gehörte die Zeitschrift hobby. Das Magazin der Technik zu seiner Lieblingslektüre. Dort fanden sich zahlreiche Berichte über kühne Technikprojekte, darunter über Unterseetunnel (Ausgabe 1/1956). Kontinente, so heißt es dort, würden in Zukunft durch Tunnel verbunden sein. Bis heute verfolgt Flessner, was aus den Ideen von damals geworden ist und welches Zukunftspotenzial sie noch immer haben.
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