Troubadour der Tiefe

Der Wal erfreut sich bei seinen Arien einer traumhaften Atemtechnik. Eine Sammelrezension der singenden Art

Wenn Wale singen, jauchzen die Membranen. Fernab einer berechnenden, von Urheberrechten verbarrikadierten Welt finden sich noch Künstler, die ohne Honorare auftreten, Liedermacher, Boy-Groups, begnadete Solisten und Sänger von Format, Komponisten einer Wassermusik von erstaunlicher Vielfalt. Sie musizieren mit einer Lautstärke von 170 Dezibel, lauter als ein Düsenjet, lauter als jede Disco. Ihr mächtiger Stimmumfang bewegt sich zwischen 30 und 4000 Hertz.

Doch auch unter Wasser sind die Talente unterschiedlich verteilt. Weißwale oder Belugas können einigermaßen trillern. Das Musizieren der Pottwale dagegen ist kaum spannender als das Ticken eines hundert Tonnen schweren Metronoms, ein unmelodiöses Klicken, zweimal in der Sekunde. Diese akustischen Signale, die wie ein Echolot funktionieren und mit denen sie ihre Beute orten, entziehen sich der kommerziellen Verwertung.

Blauwale pflegen eine monothematische, schwebend naturhafte Pentatonik eigenen Stils. Die profunden Bässe kennen nur fünf Töne, entwickeln aber ein erstaunliches Fortissimo. Ihr Gesang ist Hunderte Kilometer weit zu hören, allerdings nicht für das menschliche Ohr, denn sie singen mit einer Frequenz von 20 Hertz, weit unter der menschlichen Wahrnehmungsschwelle bei 50 Hertz.

Die bestangezogenen Musiker der Meere sind die Orcas: weiße Hemdbrust, und die mächtigen Schwanzflossen („Fluken“) gleichen den Frackschößen klassischer Orchestermusiker. Sie musizieren im Quintett oder in größeren Gemeinschaften. Junge Orcas nehmen Gesangsstunden, lernen pfeifen und quietschen. Ausgebildete Killerwale entwickeln so starke Schallwellen, dass sie ihre Beute damit betäuben.

Doch die wahren Künstler der Unterwasserwelt sind die Buckelwale. Sie singen Liebeslieder a cappella, Tonschöpfungen von geradezu ozeanischer Dimension. Ihre Kompositionen sind vielschichtig, ihre Interpretationen betörend. Den Walmännern gelingen die längsten (30 Minuten) und komplexesten Tonschöpfungen der Tierwelt. Kein Mensch bringt ein so gleichmäßig strömendes Legato, kein Geiger solch ein Glissando zustande. Die Sänger der Meere beeindrucken durch Agilität der Verzierungen und klangliche Reinheit. Sie singen eher im lyrischen Fach, lieben ein rasendes Parlando und schwebende Sostenuti in Fisch-Dur.

Buckelwale haben eine mächtige Fettschicht und sind mit 40 Tonnen deutlich schwerer als Luciano Pavarotti. Von ihrer Atemtechnik können irdische Sänger nur träumen. Alle zehn bis 15 Minuten holen sie Luft. Sie singen mit geschlossenem Mund, mit einer Kopfstimme, deren einzigartiger Klang durch zwei Stimmlippen in der Stirn erzeugt wird.

Ihre Zunge ist so groß wie zwei Pferde, aber sie brauchen sie nicht zur Artikulation ihrer etwas simplen Texte, die an die Comic-Sprache erinnern: „Grunz!“, „Quietsch!“, „Stöhn!“, „Heul!“ Oft ist es kaum mehr als ein Knarzen und Knurren. Vieles mag simpel erscheinen, oberflächlich ist es nicht. Wie bei irdischen Sängern entscheiden Körperhaltung und Stütze über den Klang. Am schönsten singen Buckelwale in 50 Metern Tiefe, kopfüber, die Brustflossen abgespreizt und der Körper wie ein Fragezeichen gebogen. Abends legen sie los.

Die Troubadoure der Tiefe singen lauter und länger als ihre Walküren. Sie quieken, schreien, grunzen, flöten immer die gleichen Liebeslieder, die auch die Rivalen auswendig kennen, den Liederzyklus zur Winterreise, der sie in wärmere Regionen führt.

Doch die Sänger erfinden, anders als die Vögel, auch jedes Jahr neue Melodien, wobei sie besonders schöne Leitmotive aus dem Vorjahr gern wieder anklingen lassen. Die Rhythmen wechseln, Plagiate sind üblich. Alle singen den gleichen Saisonhit, den Ohrwurm der Buckelwale, von dessen pazifischer Version im Hawaii-Sound sich die karibische Variante nur unwesentlich unterscheidet.

So ziehen Wale ihre Bahn, prust, auf der Suche nach der verlorenen Zeit, in der ihnen der Klangraum der Ozeane allein ge-hörte. Heute sind die Meere vom akustischen Techno-Müll der menschlichen Zivilisation erfüllt, vom Lärm der Schiffsschrauben, den Probebohrungen und Sprengungen für Ölbohrtürme, dem Krach der gigantischen Unterwasser-Lautsprecher für Klimatests, die Schallwellen von 195 Dezibel durchs Meer jagen, weil so die Durchschnittstemperatur gemessen werden kann.

Die letzte große Eroberung der Menschheit ist die Eroberung der Stille. Die Wale singen vom Untergang ihrer Welt. Schön, dass es CDs davon gibt.

mare No. 22

No. 22Oktober / November 2000

Von Emanuel Eckardt und Klaus Ensikat

Emanuel Eckardt, Jahrgang 1942, geboren in Hamburg, ist studierter Grafiker und Illustrator und arbeitete als freier Karikaturist, bevor er sich dem Journalismus zuwandte. Er war zwölf Jahre Reporter für den stern und erhielt 1981 den Egon-Erwin-Kisch-Preis für seine Reportage über die Konzertreise der Berliner Philharmoniker mit Herbert von Karajan nach Japan. Er war Stellvertretender Chefredakteur bei Geo und gemeinsam mit Wolf Thieme Chefredakteur von Merian, entwickelte Geo Saison und Amadeo, das Musik-Magazin des stern. Eckardt veröffentlichte zahlreiche Bücher. Unter anderem, gemeinsam mit dem Fotografen Dieter Blum, Das Orchester - Die Innenwelt der Berliner Philharmoniker. Er begleitete und porträtierte das Orchester und seine Dirigenten über viele Jahre. Für ein Zeit-Dossier über die Berliner Philharmoniker wurde er 2003 abermals für den Kisch-Preis nominiert. Eckardt lebt als freier Autor in Hamburg und schreibt unter anderem für Cicero, stern und Geo, National Geographic Deutschland, Merian und mare, Die Zeit und den Feinschmecker. Für mare schrieb er bisher zwanzig Beiträge.

Klaus Ensikat, 1937 geboren, Buchillustrator, Karikaturist, bekam für seine Arbeiten zahllose Auszeichnungen und Preise und für das Gesamtwerk die höchste internationale Ehrung: die Hans-Christian-Andersen-Medaille.

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Vita Emanuel Eckardt, Jahrgang 1942, geboren in Hamburg, ist studierter Grafiker und Illustrator und arbeitete als freier Karikaturist, bevor er sich dem Journalismus zuwandte. Er war zwölf Jahre Reporter für den stern und erhielt 1981 den Egon-Erwin-Kisch-Preis für seine Reportage über die Konzertreise der Berliner Philharmoniker mit Herbert von Karajan nach Japan. Er war Stellvertretender Chefredakteur bei Geo und gemeinsam mit Wolf Thieme Chefredakteur von Merian, entwickelte Geo Saison und Amadeo, das Musik-Magazin des stern. Eckardt veröffentlichte zahlreiche Bücher. Unter anderem, gemeinsam mit dem Fotografen Dieter Blum, Das Orchester - Die Innenwelt der Berliner Philharmoniker. Er begleitete und porträtierte das Orchester und seine Dirigenten über viele Jahre. Für ein Zeit-Dossier über die Berliner Philharmoniker wurde er 2003 abermals für den Kisch-Preis nominiert. Eckardt lebt als freier Autor in Hamburg und schreibt unter anderem für Cicero, stern und Geo, National Geographic Deutschland, Merian und mare, Die Zeit und den Feinschmecker. Für mare schrieb er bisher zwanzig Beiträge.

Klaus Ensikat, 1937 geboren, Buchillustrator, Karikaturist, bekam für seine Arbeiten zahllose Auszeichnungen und Preise und für das Gesamtwerk die höchste internationale Ehrung: die Hans-Christian-Andersen-Medaille.
Person Von Emanuel Eckardt und Klaus Ensikat
Vita Emanuel Eckardt, Jahrgang 1942, geboren in Hamburg, ist studierter Grafiker und Illustrator und arbeitete als freier Karikaturist, bevor er sich dem Journalismus zuwandte. Er war zwölf Jahre Reporter für den stern und erhielt 1981 den Egon-Erwin-Kisch-Preis für seine Reportage über die Konzertreise der Berliner Philharmoniker mit Herbert von Karajan nach Japan. Er war Stellvertretender Chefredakteur bei Geo und gemeinsam mit Wolf Thieme Chefredakteur von Merian, entwickelte Geo Saison und Amadeo, das Musik-Magazin des stern. Eckardt veröffentlichte zahlreiche Bücher. Unter anderem, gemeinsam mit dem Fotografen Dieter Blum, Das Orchester - Die Innenwelt der Berliner Philharmoniker. Er begleitete und porträtierte das Orchester und seine Dirigenten über viele Jahre. Für ein Zeit-Dossier über die Berliner Philharmoniker wurde er 2003 abermals für den Kisch-Preis nominiert. Eckardt lebt als freier Autor in Hamburg und schreibt unter anderem für Cicero, stern und Geo, National Geographic Deutschland, Merian und mare, Die Zeit und den Feinschmecker. Für mare schrieb er bisher zwanzig Beiträge.

Klaus Ensikat, 1937 geboren, Buchillustrator, Karikaturist, bekam für seine Arbeiten zahllose Auszeichnungen und Preise und für das Gesamtwerk die höchste internationale Ehrung: die Hans-Christian-Andersen-Medaille.
Person Von Emanuel Eckardt und Klaus Ensikat