Traumland Niemandsland?

Seit 1974 trennt in Zypern eine Pufferzone den türkischen Norden und den griechischen Süden. Allmählich nähern sich die Erzfeinde von damals einander an

Doer, wo die Ledra Street abrupt zu Ende geht, nach der letzten Mezebude, hat man von einer Bank aus den besten Blick auf die Grenze, genauer: auf einen der drei Grenzübergänge, die es in Nikosia gibt. Es ist nicht viel los jetzt um die Mittagszeit, Mitte Oktober, an diesem Fußgängerübergang. Ein Dutzend Touristen, die sich den anderen, den türkischen Teil der Hauptstadt anschauen wollen, und einige Einheimische, die auf der einen oder anderen Seite ihren Geschäften nachgehen. Ein Tourist in gelblichen Schlabbershorts macht ein Selfie vor der Grenzbefestigung. Wenn man von der griechischen Seite, vom Süden kommt, ist der Übergang ein fließender, wie ein sich langsam aufblätterndes Bilderbuch: zunächst in der Neustadt noch verspiegelte Bürohäuser, wichtigtuerische Bankgebäude, schicke Geschäfte, dann, nachdem man die venezianische Stadtmauer überquert hat, die schon etwas schäbigeren Geschäfte der Altstadt, und nach dem Grenzübertritt eine andere, quirlige Welt, ein veritabler Basar, Stand an Stand mit billigster Ware, die Verkäuferinnen in Pluderhosen oder schimmernden Leggings. Kein griechisches Wort mehr. Nur noch das melodiöse Türkisch, das wie geschaffen scheint, um all diesen Schund anzupreisen.

Als ich heute Morgen vom Flughafen Larnaka nach Nikosia fuhr, sah ich am Rand der Autobahn ein riesiges Schild mit der Aufschrift: TURKISH TROOPS OUT OF CYPRUS. Warum wirken diese Slogans so aufgesetzt, warum erinnern sie mich an die alten Parolen auf überdimensionierten Plakaten in der verflossenen DDR oder auf Kuba? Das Anliegen hier ist doch berechtigt: Fremde Besatzer raus! Aber weil die Situation auf Zypern seit mehr als 40 Jahren so ist, wie sie ist, sind die Parolen stumpf geworden, wirkungsarm, so als hätten sie ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Sie wirken wie eine Pflichtübung. Auch das, was mir der freundliche griechische Grenzbeamte nach Rückgabe meines Passes hinterherruft: „Have a good day in the occupied area!“

Man kann auf Zypern mehr als an anderen Orten dieser Welt erfahren, was ein langer Zeitablauf bewirkt, der einer Katastrophe folgt und keine Änderungen bringt, nur endlose, ergebnislose Verhandlungen. Fast ein Drittel aller Zyprer, ob Griechen oder Türken, haben ihre Besitztümer auf der anderen Seite der Grenze verloren. Wenn man etwas vermisst, dann kann es passieren, dass man plötzlich alles vermisst. Dass man sich beraubt vorkommt. Die zyperngriechische Schriftstellerin Ivi Meleagrou lässt einen ihrer Romanhelden sagen: „Diese Mauer hat unsere Leben begrenzt und unsere Träume beschnitten. Sie schmerzt, auch heute noch.“ Diese Grenze, die seit 1974 die Insel in griechischen Süden und türkischen Norden teilt, ist in Nikosia, in Famagusta und entlang der von UN-Truppen bewachten Pufferzone all- gegenwärtig.

Sie hatte eine auf Nikosia beschränkte Vorläuferin. Als Zypern, bis 1960 britische Kronkolonie und mit dem Spitznamen „Cinderella of the Empire“ bedacht, unabhängig wurde, flammten schnell zwischen den beiden dort lebenden Volksgruppen Un- stimmigkeiten auf. Die türkische Minderheit fühlte ihre von der jungen Verfassung verbrieften Rechte ungenügend geschützt. Eine Mehrheit der Inselgriechen wünschte die „Enosis“, den Anschluss an das „Mutterland“ Griechenland, was für die Inseltürken inakzeptabel war. Die Streitereien eskalierten bis hin zu Attentaten und gezielten politischen Morden.

Als 1964 die Situation in Nikosia außer Kontrolle zu geraten schien, zog der Befehlshaber der britischen Friedensmission, Generalmajor Peter Young, mit einem grünen Filzstift eine Waffenstillstandslinie auf einen Stadtplan von Nikosia. Von daher rührt der bis heute gebräuchliche Name für die Grenze, Green Line, der später auf die gesamte 180,5 Kilometer lange innerzyprische Grenze ausgedehnt wurde.

Obwohl sich ab 1964 die türkische Volksgruppe in ihre Enklaven oder mehrheitlich kontrollierten Viertel zurückzog, blieb die Lage gespannt. Als die Junta in Athen die Macht übernahm, sprach sich der zyprische Staatspräsident, Erzbischof Makarios, erstmals deutlich gegen einen Anschluss an Griechenland aus. Die Junta versuchte ihn zu stürzen und setzte Nikos Sampson, einen griechischen Journalisten aus Paphos, der sich rühmte, mehrere Zyperntürken eigenhändig getötet zu haben, als Nachfolger ein. Die Türkei sah rot. Als eine der drei Garantiemächte für Zypern, neben dem untätigen Großbritannien und dem faschistischen Griechenland, sah sie endlich die Gelegenheit zu intervenieren. Im Juli 1974 besetzten ihre Truppen acht Prozent und in einem weiteren Schritt 37 Prozent der Insel. Der heutige Grenzverlauf – von Kato Pyrgos in der Bucht von Morphou bis zu einem Punkt südlich der Hafenstadt Famagusta – spiegelt exakt den Geländegewinn der türkischen Invasionstruppen im August 1974.

Von 1974 bis 2003 blieb die Grenze geschlossen, hermetischer und menschenverachtender, als es die innerdeutsche Grene je war. Nur Diplomaten, UN-Soldaten und Ärzte durften sie passieren. Da vor der Abriegelung ein brutaler Bevölkerungsaustausch durchgeführt worden war – 160 000 Zyperngriechen vom Norden in den Süden und 50 000 Zyperntürken vom Süden in den Norden –, blieb die Grenze, sieht man von Demonstrationen der Inselgriechen und einigen Schießereien an der Grenze in den ersten Jahren ab, weitgehend ruhig.

Die allerabsurdesten „Grenzsituationen“ sind der seit 1974 stillgelegte Internationale Flughafen in Nikosia und der ebenfalls seit 1974 abgeriegelte Stadtteil Varosha in Famagusta. Beide sind Areale, wie sie sich gespenstischer ein surrealistischer Maler nicht hätte ausdenken können. Sie sind exakt in dem Zustand eingefroren, in dem sie sich befanden, als sich die türkische Armee ihrer bemächtigte.


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mare No. 126

No. 126Februar / März 2018

Von Joachim Sartorius und Jan Banning

Joachim Sartorius, Jahrgang 1946, lebt in Berlin und Syrakus. Fast die Häfte seines Lebens hat er im östlichen Mittelmeer verbracht. Diese Region spielt in seinen bisher sechs Gedichtbänden und in seinen Reisebüchern Die Prinzeninseln und Mein Zypern, bei mare erschienen, eine Rolle. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Jan Banning, Jahrgang 1954, ist Fotokünstler in Utrecht. Er hat Geschichte studiert und engagiert sich für historisch-politische Themen. Ursprünglich war er in Zypern, um die dortige Kommunistische Partei für sein Fotoprojekt „Red Utopia“ zu dokumentieren. Dabei begann er sich für die Pufferzone zu interessieren.

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Vita Joachim Sartorius, Jahrgang 1946, lebt in Berlin und Syrakus. Fast die Häfte seines Lebens hat er im östlichen Mittelmeer verbracht. Diese Region spielt in seinen bisher sechs Gedichtbänden und in seinen Reisebüchern Die Prinzeninseln und Mein Zypern, bei mare erschienen, eine Rolle. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Jan Banning, Jahrgang 1954, ist Fotokünstler in Utrecht. Er hat Geschichte studiert und engagiert sich für historisch-politische Themen. Ursprünglich war er in Zypern, um die dortige Kommunistische Partei für sein Fotoprojekt „Red Utopia“ zu dokumentieren. Dabei begann er sich für die Pufferzone zu interessieren.
Person Von Joachim Sartorius und Jan Banning
Vita Joachim Sartorius, Jahrgang 1946, lebt in Berlin und Syrakus. Fast die Häfte seines Lebens hat er im östlichen Mittelmeer verbracht. Diese Region spielt in seinen bisher sechs Gedichtbänden und in seinen Reisebüchern Die Prinzeninseln und Mein Zypern, bei mare erschienen, eine Rolle. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Jan Banning, Jahrgang 1954, ist Fotokünstler in Utrecht. Er hat Geschichte studiert und engagiert sich für historisch-politische Themen. Ursprünglich war er in Zypern, um die dortige Kommunistische Partei für sein Fotoprojekt „Red Utopia“ zu dokumentieren. Dabei begann er sich für die Pufferzone zu interessieren.
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