Törn nach Utopia

Vor 80 Jahren geht ein Kieler Kapitänssohn auf lange Seereise. Er sucht nach dem Sinn des Lebens, findet ihn und schreibt darüber ein Buch. Einen Leser fasziniert das besonders: den Großschriftsteller Henry Miller

Somes Island im Hafen von Wellington im Juni 1945. Seit vier Jahren ist der Weltensegler George Dibbern in Neuseeland interniert – als feindlicher Deutscher, als mutmaßlicher „Nazispion“. Der Tagesablauf ist streng geregelt, Besuch gibt es nur einmal die Woche für eine Stunde. Es sind die Briefe von Freunden aus aller Welt, die den drahtigen, braun gebrannten Mann am Leben halten.

Eines Morgens bekommt Dibbern vom Barackenältesten ein Kuvert ausgehändigt, aus „Big Sur, California“, der Absender ist ihm unbekannt. Nach dem Küchendienst geht er zurück in seine Holzkabine, legt sich auf das schmale Bett und holt zwei mit Maschine beschriebene Blätter aus dem Umschlag. „Lieber George Dibbern“, liest er. „Vor einigen Wochen hatte ich das große und äußerst lehrreiche Vergnügen, Ihr Buch ‚Quest‘ zu lesen.“ Der Briefschreiber hat von seinem Verlag erfahren, dass er interniert ist, will ihm helfen, bietet an, Geld und andere Dinge zu senden, die er zum Leben braucht – und, was viel wichtiger ist: Ihm gefällt „Quest“!

„Ihr Buch ist ein wunderbares menschliches Dokument des menschlichen Daseins. Die Schilderung einer geistigen Reise, weit mehr als einer wirklichen. All Ihre Gedanken über das Leben, den Krieg, uns Menschen, über die Bibel haben mich tief beeindruckt. Es gibt nur wenige unter uns, die wirklich eigenständig denken. Ihr Buch war ein wahres echtes Festmahl für mich.“ Der neue Freund ist selbst Schriftsteller, und er will sich Dibberns Werk annehmen. „Ich bewundere Ihren Geist, großherzig und weit wie der Walt Whitmans. Ich grüße Sie feierlich als einen der Guten und Aufrechten dieser Erde, als einen, auf den wir immer stolz sein werden.

Ein Freund, Henry Miller.“

George Dibbern liegt auf seinem Bett und könnte heulen vor Glück, darüber, dass er noch nicht vergessen ist in der Welt da draußen, dass Menschen sein Buch lesen und es verstehen. Er hat „Quest“ Ende der 1930er Jahre auf Englisch geschrieben, ein Buch über seine Segelreise von Kiel bis nach Auckland, über die Suche nach dem wirklichen Sinn seines Daseins. Als es im März 1941 beim Norton-Verlag in New York erscheint, befindet sich sein Autor bereits seit einem Monat auf Somes Island.

Im Jahr 1930 war in dem gebürtigen Kieler George Dibbern der Entschluss gereift, Deutschland zu verlassen. Der 41-jährige Kapitänssohn wohnte mit Frau und drei Töchtern in Berlin-Bohnsdorf und hatte zuletzt als Notstandsarbeiter auf einem Berliner Friedhof neue Wege angelegt, gemeinsam mit anderen verzweifelten Gestalten, die von der Revolution, einem starken Heer oder einer Heirat träumten. Sie nannten ihn den „roten Indianer“, weil er vor Jahren in Australien und Neuseeland gelebt hatte, und lachten ihn aus, wenn er zu ihnen von Verständigung und gutem Willen sprach.

Das Vehikel seiner Träume lag im Kieler Hafen vertäut, die „Te Rapunga“, ein zehn Meter langes, motorloses Segelschiff, der traurige Rest seiner früheren Bootsbaufirma. Der Schiffsname kam aus der Sprache der Maori und bedeutete so viel wie „dunkle Sonne“. Auch als Autoverkäufer, Schausteller, Chauffeur war Dibbern gescheitert, dazu litt er unter Asthma in den langen deutschen Wintern. Auf See war er nie krank gewesen. Er beschloss, mit der „Te Rapunga“ nach Neuseeland in ein neues Leben aufzubrechen – seine Familie würde er später nachholen.

Im Herbst 1930 segelte er in Kiel los. Zur Crew gehörten sein Neffe Günther Schramm als Steuermann und wechselnde zahlende Gäste, darunter von Kiel durchs Mittelmeer bis über den Atlantik Dorothee Freifrau von Fritsch, die mit ihrer gut gefüllten krokodilledernen Handtasche einen Großteil der Reisekosten übernahm.

Dibberns älteste Tochter war sieben, als der Vater die Familie verließ, danach hat sie ihn nie wieder gesehen. Frauke Dibbern, verheiratete Ploog, ist heute 89 Jahre alt, ihre Schwestern Sunke und Elke sind verstorben. Die Ärztin lebt in Wasserburg, einer mittelalterlichen Stadt in Oberbayern, die der Inn in einer Schleife umfließt. Wenige Eindrücke nur sind der Frau mit den weißen kurzen Haaren und den blauen Augen geblieben, die Ahnung, dass der Vater gelitten hat in Deutschland. „Ich hab die Erinnerung an ihn, als wir nach Berlin gezogen sind, 1929/30, dass er da mal auf dem Tisch gehockt hat, richtig so grau in sich zusammengefallen, und hatte die Hände voller Beulen, das waren irgendwelche Infektionen.“

Frauke Dibbern-Ploog holt ein dickes Fotoalbum aus einem Wandschrank, sucht nach alten Bildern des Vaters. „Er war ein ganz Schmaler, sehr beweglich, er hatte etwas Jungshaftes an sich.“ Dann zeigt sie auf ein kleines Schwarz-Weiß-Foto: „Das war Vater. Er hatte eine sehr große Nase im Verhältnis und ein sehr schmales Gesicht, blaue Augen, ein dicker Puschelhaarkopf, ganz dunkel. Ein hübscher Mensch.“


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 91. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 91

No. 91April / Mai 2012

Von Anette Selg und Erika Grundmann (Archiv)

Autorin Anette Selg, Jahrgang 1968, aus Berlin, ist nur als Kind gesegelt – auf dem Bodensee. An dem Weltensegler Dibbern fasziniert sie, mit welcher Leichtigkeit er sich sein Leben lang in neue Häfen aufmachte.

Erika Grundmann, kanadische Dibbern-Biografin, hat mehr als zehn Jahre lang Material über den Segler gesammelt und das englische Original von Quest neu aufgelegt, zu beziehen über: www.georgedibbern.com

Mehr Informationen
Vita Autorin Anette Selg, Jahrgang 1968, aus Berlin, ist nur als Kind gesegelt – auf dem Bodensee. An dem Weltensegler Dibbern fasziniert sie, mit welcher Leichtigkeit er sich sein Leben lang in neue Häfen aufmachte.

Erika Grundmann, kanadische Dibbern-Biografin, hat mehr als zehn Jahre lang Material über den Segler gesammelt und das englische Original von Quest neu aufgelegt, zu beziehen über: www.georgedibbern.com
Person Von Anette Selg und Erika Grundmann (Archiv)
Vita Autorin Anette Selg, Jahrgang 1968, aus Berlin, ist nur als Kind gesegelt – auf dem Bodensee. An dem Weltensegler Dibbern fasziniert sie, mit welcher Leichtigkeit er sich sein Leben lang in neue Häfen aufmachte.

Erika Grundmann, kanadische Dibbern-Biografin, hat mehr als zehn Jahre lang Material über den Segler gesammelt und das englische Original von Quest neu aufgelegt, zu beziehen über: www.georgedibbern.com
Person Von Anette Selg und Erika Grundmann (Archiv)