Todschicke Häute

Für besonders edle Möbelstücke verwendeten Designer in den zwanziger und dreißiger Jahren die Haut von Rochen

Bauchig bis zur Obszönität“, schrieb die Kritik, und das Publikum war entzückt oder entsetzt. Es ging um eine Kommode. Breitbeinig stand sie da und war die Attraktion der Ausstellung. Die ausladenden Hüften, die betonte Taille und der runde Bauch erinnerten an eine Frau. Wer daran zweifelte, brauchte sich nur umzudrehen und stand vor ihrem Gegenstück, dem „Mann“: keine Taille, um einiges vierschrötiger und ohne die Intarsien, die an Brüste und Scham erinnerten.

So stand das Paar in der „Exposition intérnationale des arts décoratifs“, 1925 in Paris. Ihr Material war das Exklusivste, mit dem man damals Möbel dekorieren konnte: Rochenhaut. Und im Gegensatz zu anderen Möbeln, auf denen Rochenhaut nur für kleine Flächen Verwendung fand, waren die beiden bauchigen Schönheiten von Kopf bis Fuß in das kostbarste Leder ihrer Zeit gehüllt.

Ebenholz und Elfenbein, Teak und Palisander, chinesischer Lack und afrikanische Felle waren die bevorzugten Materialien des Art déco, des Kunsthandwerks der zwanziger Jahre in Paris. Edel und exotisch mussten die Stoffe sein, aus denen die Meister die teuren Möbel und Nippes für Adel und Geldadel bauten. Rochenhaut erfüllte alle Ansprüche des Zeitgeschmacks an einen exquisiten Werkstoff. Sie war teuer, weil sie von weither kam und nur unter sehr hohem Arbeitsaufwand zu bearbeiten war. Sie war schön, weil kaum ein anderer Werkstoff die Eleganz ihres natürlichen Tropfenmusters übertraf. Und sie passte mit ihren zarten Weiß- und Crème-Tönen perfekt in die Farbvorlieben der Zeit.

Der Schöpfer des Kommodenpärchens am Rande der Obszönität hieß André Groult. Er liebte die runden Formen, als ob er Aussehen und Klang seines Nachnamens zum Programm gemacht hätte. Der zweite Designer dieser Jahre, der seinem Namen mit Formen Ausdruck verschafft hatte, hieß Jean-Michel Frank. So gerade und trocken wie sein Name klingt, gestaltete er seine Entwürfe: rechte Winkel, gerade Linien, klare Formen, keine Schnörkel. Gemeinsam war den beiden nur ihre Vorliebe für Rochenhaut, und das auf möglichst großen Flächen. Den Luxus auf die Spitze treiben hieß, ganze Möbel mit den teuren Häuten zu überziehen. Und weil das beide gut und gern taten, hatten sie bei ihrer Klientel enormen Erfolg.

Ihre Wiederentdeckung und ihren eigentlichen Siegeszug verdankte die Rochenhaut aber dem dritten großen Entwerfer des Art déco: Clément Rousseau. Er entwarf zwar nicht so gewagt wie Groult und nicht so modern wie Frank, aber er bewahrte in den zwanziger Jahren das Material vor dem Vergessen. Und umgekehrt bewahrte ihn das Material vor der Bedeutungslosigkeit. Seine frühen Entwürfe orientierten sich noch stark am Geschmack des 19. Jahrhunderts; erst in den zwanziger Jahren entsprachen sie ganz dem Art déco. Vorbilder aus afrikanischer und ozeanischer Plastik beeinflussten jetzt seine Möbel, und seine verfeinerte Handwerkskunst machte aus jedem Stück eine Kostbarkeit.

Rochenhaut ist das roh oder gegerbt verwendete Leder des Stachelrochens. Diese in allen Meeren vorkommenden Grundfische sind eng mit den Haien verwandt. Mit den Flossenspitzen ihrer flachen Körper erreichen sie Spannweiten bis zu dreieinhalb Meter. Ihre wellenförmigen Schwimmbewegungen erinnern an Flügelschläge und geben ihnen eine schwerelose Eleganz. Sie halten sich mit Vorliebe auf dem Meeresgrund auf und ernähren sich dort von Mollusken, Krustentieren, Würmern und gelegentlich von anderen Fischen. Wenn sie ruhen oder auf Beute warten, graben sie sich in den Sand ein und bleiben regungslos liegen. Taucher und Schwimmer fürchten ihren Giftstachel. Tritt man auf einen Rochen, schnellt dessen Schwanz wie eine Peitsche nach vorn, und der Stachel bohrt sich ins Fleisch des Angreifers. Starke Schmerzen, Erbrechen, Durchfall, Schweißausbrüche, abfallender Blutdruck und manchmal sogar der Tod können die Folge sein.

Die toten Rochen mussten so schnell wie möglich verarbeitet werden. Wenn die Haut nicht innerhalb von 24 Stunden abgezogen und eingesalzen wurde, hinterließ die einsetzende Verwesung Flecken auf dem hellen Werkstück. Händler importierten die getrockneten Häute aus Ostasien zur Weiterverarbeitung nach Frankreich und, in weitaus geringeren Mengen, nach England. Mehrere Tage lang lagerten die Häute in Salzwasser, bevor sich das restliche Fleisch von der Rückseite abschaben ließ. Sollten die warzenartigen Höcker der Vorderseite zu sehen sein, reinigten die Arbeiter die Haut lediglich mit Drahtbürsten.

Rochenhäute sind auf ihrer Außenseite sehr hart. Die perlförmigen Höcker entsprechen anatomisch menschlichen Zähnen und sind auch gleich aufgebaut: im Innern ein zahnartig verhärteter Hautfortsatz und außen eine Schicht Zahnschmelz, das Email. Es ist widerstandsfähig genug, harte Drahtbürsten ohne Kratzer zu ertragen. Heute werden die für Restaurationen notwendigen Häute sogar sandgestrahlt. In den Zwanzigern allerdings war die Reinigungsprozedur eine mühselige und schmutzige Arbeit.


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mare No. 24

No. 24Februar / März 2001

Von Hansjörg Gadient

Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, ist Architekt sowie Architektur- und Kunstjournalist. Er lebt in Berlin und Zürich. In mare No. 20 schrieb er über den schottischen Künstler Steve Dilworth

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Vita Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, ist Architekt sowie Architektur- und Kunstjournalist. Er lebt in Berlin und Zürich. In mare No. 20 schrieb er über den schottischen Künstler Steve Dilworth
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Vita Hansjörg Gadient, Jahrgang 1962, ist Architekt sowie Architektur- und Kunstjournalist. Er lebt in Berlin und Zürich. In mare No. 20 schrieb er über den schottischen Künstler Steve Dilworth
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