Todesfahrt ab Hamburg

Wie die Zeiten sich gleichen: Der Hamburger Reeder Sloman wurde vor 150 Jahren reich mit der skrupellosen Ausbeutung von Armutsauswanderern nach Amerika

Tausend Menschen, die aus Not ihre Heimat verlassen, um auf einem fremden Kontinent ihr Glück zu finden. Skrupellose Schlepper, die Emigranten auf maroden Schiffen übers Meer schaffen. Hunderte Tote auf hoher See …Das klingt nach afrikanischen Flüchtlingen, libyschen Schleppern, nach lecken Kähnen und Mittelmeer. Es sind aber Nachrichten aus Deutschland.

Es gab nämlich eine Zeit, da flohen die Menschen nicht aus Mali, sondern aus Mecklenburg. Nicht übers Mittelmeer, sondern über den Atlantik. Nicht auf Schlauchbooten, sondern auf Rahseglern. Und die mörderisch gierigen Schlepper kamen nicht aus dem Maghreb, sondern aus Hamburg. Es waren Reeder, Kapitäne und Politiker, nach denen heute Straßen der Stadt benannt sind.

Seit dem 19. Jahrhundert strömen Menschen von Europa nach Amerika. Zwar hat schon Kolumbus auf seiner ersten Reise einige Spanier in der Neuen Welt zurückgelassen, doch zum Massenphänomen wird die Auswanderung erst mit der Industrialisierung und den Landreformen, die zahllose Handwerker und Bauern ruinieren. Aus Irland und Italien fliehen Hunderttausende vor dem Hunger, in Osteuropa weichen sie politischer und antisemitischer Unterdrückung. Schwierig zu schätzen, doch zwischen 1850 und 1930 emigrieren aus Europa mindestens 35 Millionen Menschen nach Amerika.

Mehr als fünf Millionen davon sind Deutsche, drei Millionen kommen aus Österreich-Ungarn, fast 400 000 aus der Schweiz. Für viele beginnt die Überfahrt in Hamburg, allein im Jahr 1867 etwa brechen 8788 Menschen von der Elbmetropole aus auf.

Zwar kreuzen da schon die ersten Dampfer den Atlantik. Doch für die Reeder ist die menschliche Fracht besonders profitabel, wenn Kosten gedrückt werden. Deshalb gehen in Hamburg Emigranten vor allem auf Segelschiffe. Diese sparen den Reedern teure Kohle und Heizer – die Reise dauert allerdings nicht neun bis zehn Tage, wie bei Dampfern, sondern mehrere Wochen, je nach Wind.

Der Dreimaster „Leibnitz“ gehört der Reederei Sloman, was insofern eine historische Ironie ist, dass deren Gründer William Sloman selbst ein Emigrant war: ein Engländer, der 1793 in Hamburg sein Unternehmen startete. 1800 stirbt der Senior. Sein Sohn Robert Miles übernimmt die Geschäfte. 1867 löst dessen Sohn Robert Miles Sloman der Jüngere ihn ab. Der Junior ist gut vernetzt: Seit 1864 sitzt er in der Hamburger Bürgerschaft, 1867 ist er zudem Abgeordneter des Konstitu- ierenden Reichstags des Norddeutschen Bundes.

Seine „Leibnitz“ ist ein etwa 55 Meter langer und knapp zehn Meter breiter Frachtsegler. Wer in Sonne und Wind auf dem Deck steht, kann auf einer etwa 60 Zentimeter schmalen Treppe ins Zwischendeck hinuntersteigen. Drei je etwa zwei mal zwei Meter messende Luken lassen etwas Licht und Luft hinein. Eine weitere Treppe führt noch eine Ebene tiefer, ins Orlopdeck. Das Zwischen- und das Orlopdeck sind kellerartig niedrige, schlecht belüftete und, im Fall des Orlopdecks, auch lichtlose Räume im Rumpfinnern. Keine Bullaugen, keine Zwischenwände, schon gar keine Kabinen. Hier lagern Lederhäute oder Eisenwaren oder Tee – oder Menschen.

Denn Sloman lässt 1867 in beiden Frachtdecks demontierbare Etagenbetten aus Holz und Stoff aufstellen – keine Tische, keine Stühle, nur lange Reihen von Betten. Jeder der beiden Schlafsäle ist knapp 15 Meter lang, nimmt also ein Drittel der Schiffslänge ein, ist knapp zehn Meter breit und gut zwei Meter hoch – macht, grob gerechnet, 300 Quadratmeter fenster-, licht- und luftloser Raum. Genug für 544 Menschen.

Am 2. November 1867 legt die „Leibnitz“ zu ihrer zweiten Auswandererfahrt ab. An Bord 399 Erwachsene, 102 Kinder unter zehn Jahren, 41 Säuglinge. Die meisten sind Mecklenburger, die als Bauern oder Arbeiter in Illinois oder Wisconsin ihr Glück machen wollen; andere kommen aus Posen, Pommern, Sachsen, Thüringen. Da ist eine 25-Jährige, von der nur der halbe Name in der Passagierliste steht: D. Schacht, aus Göhren bei Malchow. Welche Hoffnungen und Träume, welche Ängste muss eine junge Frau angesichts dieser Reise empfinden? Was hat sie wohl hinausgetrieben aus ihrem Dorf? Und warum wandert der ehemalige Militärkrankenpfleger Johann Steinhäuser aus? Und mit welchen Worten wird sich Carl Werner von seinem in Hamburg lebenden Bruder verabschieden?

79 Erwachsene, 22 Kinder und fünf Säuglinge verschwinden mit ihren Habseligkeiten im lichtlosen Orlopdeck – 106 Auswanderer. Nach den Hamburger Vorschriften dürfen dort nur 90 Menschen untergebracht werden – das wäre schon eng –, doch Reeder Sloman wendet einen legalen Trick an: Babys zählen bei der Platzberechnung nicht, Kinder nur zur Hälfte, und also kommt er genau auf 90 „Vollpassagiere“, wie er das nennt. 438 Menschen drängen sich im Zwischendeck zusammen. Nur ein Dutzend werden im Deckshaus und damit einigermaßen in Licht und Luft reisen, gar nur zwei haben die bequemen Kajüten achtern im Rumpf gebucht. Einer der beiden ist Gustav Ettmüller, der nach dreijährigem Medizinstudium approbierter Chirurg ist.

Der 31-jährige Hamburger Kapitän Hans Friedrich Bornhold kommandiert die 23 Mann Besatzung. Er ist seit zwei Jahren Schiffsführer. Zwei Steuerleute ge- hören zu seiner Crew, einige Matrosen, ein Schiffszimmermann, ein Steward für den Kapitän – und ein Koch, für 575 Menschen an Bord.

Die Vorräte: 3800 Pfund Brot, 14 Tonnen Ochsenfleisch, fünf Tonnen Speck, Wasser, Butter, Bohnen. Nichts davon kann gekühlt werden. Sloman hat das Brot in Hamburg für 15 Prozent unter dem Marktpreis gekauft, die Butter gar für ein Viertel unter dem Üblichen – auffallend günstige Ware. Noch billiger kommen ihn Speck und Fleisch: Die auf der vorigen Fahrt nicht verbrauchten und schon ein Dreivierteljahr alten Reste lässt er einfach an Bord. Für 91 Tage, so die Hamburger Vorschriften, müsste Sloman Vorräte laden, doch der Reeder findet das Gesetz „übertrieben“ und staut nur für gut 70 Tage. Noch dürftiger sorgt er für Hygiene und Gesundheit vor. An Bord gibt es keine Waschräume und nur vier (nach anderen Berichten sechs) Toiletten für 544 Auswanderer. Eine kleine Medizinkiste enthält Kampfer, Opium und Granatapfelschalen. Ausgefeiltere Medikamente wären ohnehin zwecklos. Es ist nämlich kein Schiffsarzt an Bord.


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mare No. 137

No. 137Dezember 2019 / Januar 2020

Von Cay Rademacher und Jörg Hülsmann

Cay Rademacher, Jahrgang 1965, lebt als Autor in der Provence. Es hat ihn überrascht, wie nahe die verehrten Reeder der Hansestadt den heutigen Menschenschmugglern kamen.

Jörg Hülsmann, geboren 1974, studierte Illustration in Düsseldorf und Hamburg. Seit 2003 zeichnet er als freier Illustrator für Buchverlage, Magazine und Zeitungen.

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Vita Cay Rademacher, Jahrgang 1965, lebt als Autor in der Provence. Es hat ihn überrascht, wie nahe die verehrten Reeder der Hansestadt den heutigen Menschenschmugglern kamen.

Jörg Hülsmann, geboren 1974, studierte Illustration in Düsseldorf und Hamburg. Seit 2003 zeichnet er als freier Illustrator für Buchverlage, Magazine und Zeitungen.
Person Von Cay Rademacher und Jörg Hülsmann
Vita Cay Rademacher, Jahrgang 1965, lebt als Autor in der Provence. Es hat ihn überrascht, wie nahe die verehrten Reeder der Hansestadt den heutigen Menschenschmugglern kamen.

Jörg Hülsmann, geboren 1974, studierte Illustration in Düsseldorf und Hamburg. Seit 2003 zeichnet er als freier Illustrator für Buchverlage, Magazine und Zeitungen.
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