Todesasche

Nach der Explosion der ersten amerikanischen Wasserstoffbombe kehren 23 japanische Fischer verstrahlt in ihren Heimathafen zurück. Eine Begegnung mit den Überlebenden

Seit über 50 Jahren hat sich Matashichi Oishi, der Kontaminierte, der Reinigung verschrieben. Eng ist es bei ihm zu Hause, vorne stehen die Waschmaschinen, hängen die weißen, frisch gebügelten Hemden, überzogen mit Klarsichtfolie, makellos, bereit zur Abholung, im Gang ein Waschbecken, hinten die Küche, die gleichzeitig Wohnzimmer ist, die Möbel haben ihm treue Kunden geschenkt als Dank für seine Arbeit im Dienst der Sauberkeit. Am Kühlschrank klebt ein Familienfoto: Ehefrau, Kinder, Enkel, gesund und fröhlich, Oishi in der Mitte. Das Glück kam spät. Sein erster Sohn wurde tot geboren, dreimal platzte die Hochzeit der Tochter, als die Verwandten des Bräutigams von Oishis Vergangenheit erfuhren.

Yoshio Misaki, der Befleckte, wohnt im Haus des Schwiegersohns, stattlich ist es, sieben bärtige Zwerge mit Zipfelmützen flankieren den Eingang. Im Garten ein Zierbaum, im Flur Porzellanhündchen, Holzbuddha und Seidenteppich, doch heraus kommt ein kleiner magerer Mann mit Zahnlücken, Bartstoppeln und Haarbüscheln in den Ohren, die Trainingshose ausgebeult und schlabberig. Sie sind alt geworden, der ehemalige Gefriergeselle Matashichi Oishi, 73, und sein früherer Boss, der Fischereimeister Yoshio Misaki, 82. Beide saßen sie damals im selben Boot. Beide haben sie jahrzehntelang geschwiegen über das, was ihnen auf dem Schiff „Fukuryu Maru“ widerfuhr. Jetzt, mehr als ein halbes Jahrhundert danach, reden sie. Oishi bereitwillig, Misaki widerwillig. „Über diesen Fall weiß ich am besten Bescheid. Man muss diesen Fall tatsachengetreu wiedergeben“, sagt Misaki. „Ich möchte die Wahrheit wissen“, sagt Oishi.

Plötzlich färbte sich die Welt orange, orange der Himmel, orange das Meer, und die Männer an Deck schwiegen, ehrfürchtig und erschrocken. Ein Meteorit, dachte Matashichi Oishi, vielleicht ist irgendwo ein Meteorit eingeschlagen. Andere glaubten, die Sonne sei aufgegangen, im Westen. Später regnete dieses „weiße Zeug“ auf sie herab, und die Fischer sahen einander an und fragten: Schnee? In der Südsee? Das „weiße Zeug“ sammelte sich an den Rändern des Schweißbands auf ihrem Kopf, es rutschte in den Ausschnitt ihrer Unterhemden und sammelte sich am Hosenbund und auch an den Bündchen ihrer Handschuhe. Es war Asche. Bald waren die Schiffsplanken bestäubt, jeder Schritt hinterließ Fußspuren. Auch im Gesicht klebte die Asche, drang ein in Nase und Ohren. Oishi fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Die Asche schmeckte nach nichts, höchstens ein bisschen sandig. Sie roch auch nicht, doch sie stach in den Augen. Einige setzten Taucherbrillen auf, sie mussten ja weiterarbeiten. Sie holten gerade die Leinen ein, die sie zum Tunfischfang benutzten. Keiner flüchtete unter Deck, keiner beschwerte sich. Die Asche war lästig, das schon, aber gefährlich? Matashichi Oishi wusste nicht, dass 160 Kilometer von ihrem Boot entfernt, beim Bikini-Atoll, eine amerikanische Wasserstoffbombe namens „Bravo“ explodiert war. Eine Bombe, deren Wirkung 1000 Mal stärker war als die von Hiroshima. Das, wovon Oishi gekostet hatte, nannten die Zeitungen später „Todesasche“.

Oishi war gerade 20 Jahre alt geworden, am 23. Januar 1954, einen Tag nach dem Auslaufen in Yaizu, einer japanischen Hafenstadt südlich von Tokio. Merkwürdig hatte die Fahrt der „Fukuryu Maru“ begonnen; manche sprachen sogar von einem bösen Omen. Erst waren fünf Mitglieder der Stammbesatzung abgesprungen, dann stellte man fest, dass man ein wichtiges Ersatzteil für den Motor an Land vergessen hatte. Unmöglich, sich hinaus auf den Pazifik zu wagen. Unmöglich aber auch, zu peinlich wäre es gewesen, in den Hafen zurückzukehren, wo man sich eben mit Militärmarsch von winkenden Müttern, Ehefrauen und Geliebten verabschiedet hatte, wo die Barmädchen zusammengelaufen waren, die Namen der Junggesellen rufend, wo sich Girlanden zwischen Kai und Schiff, zwischen Daheimgebliebenen und ihren Liebsten spannten, bis auch das letzte Band gerissen war. Also steuerte die „Fukuryu Maru“ den Nachbarhafen an, doch dort lief das Boot auf Grund, das Abschleppseil riss, und als sie endlich das offene Meer erreichten, nahmen haushohe Wellen tagelang Anlauf, das kleine hölzerne Fischerboot unter sich zu begraben.

Oishi hatte Angst. Die „Fukuryu Maru“, etwa 25 Meter lang, knapp sechs Meter breit, war ein altes Schiff. Oishi mochte es nicht. Im Sturm ächzte und knarzte es, Wasser sickerte durch die Bordwand, schwappte in die Fischkisten und ließ das Eis schneller schmelzen, ein Albtraum für Oishi, der zusammen mit dem Gefriermeister dafür sorgen musste, dass der Fang nicht verdarb. Ich muss hier runter, dachte Oishi. Er träumte von seinem Trawler-, gesehen hatte er ihn nie, aber er wusste, groß, stählern und prächtig würde er sein, der Vertrag war schon unterzeichnet, das Schiff noch im Indischen Ozean unterwegs. Nicht mehr lang, dachte Oishi, dann bin ich hier weg. Niemanden an Bord gab es, den er als Freund bezeichnen würde, der Ton unter den Männern war rau, und gerade der Fischereimeister Yoshio Misaki, der auf dem Schiff noch höher stand als der Kapitän, forderte absoluten Gehorsam. Misaki, ein kräftiger Mann mit klaren Gesichtszügen, war es auch, der plötzlich verkündete: „Wir fahren nicht in die stillen südlichen Gewässer, sondern in den Norden, zu den Midway-Inseln.“ Und als das Pech sie auch dorthin verfolgte – die Hälfte aller Fangleinen verhakten sich in Korallenriffen und waren für immer verloren –, nahm das Boot Kurs Richtung Bikini.


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mare No. 66

No. 66Februar / März 2008

Von Sandra Schulz und James Whitlow Delano

Sandra Schulz, Jahrgang 1975, durfte Japan erstmals von innen kennenlernen – bei den Protagonisten zu Hause.

Fotograf James Whitlow Delano dagegen, Jahrgang 1960, lebt seit 14 Jahren in Tokio. Er ist mit einer Japanerin verheiratet.

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Vita Sandra Schulz, Jahrgang 1975, durfte Japan erstmals von innen kennenlernen – bei den Protagonisten zu Hause.

Fotograf James Whitlow Delano dagegen, Jahrgang 1960, lebt seit 14 Jahren in Tokio. Er ist mit einer Japanerin verheiratet.
Person Von Sandra Schulz und James Whitlow Delano
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