Tel Aviv ist Mozart

Tel Avivs Strand ist Bühne und Refugium für eine höchst plurale, friedliche Stadtgesellschaft, in der Toleranz das höchste Gut ist

Kann ein Strand eine eigene Welt sein, die sich lieben, aber auch abgrundtief hassen lässt? Die Promenade von Tel Aviv ist ein solcher Ort. Gelegen zwischen der jahrtausendealten Altstadt von Jaffa im Süden und dem abgegrenzten Areal des Orthodoxenstrands im Norden, gerät die viereinhalb Kilometer lange Zone mitunter sogar in politische Debatten, wird zum Schlagwort: „Israel – das ist ja wohl nicht nur die Strandpromenade von Tel Aviv!“ Ironischerweise verbindet dieser Ausruf linke Tel-Aviv-Fans mit rechten Großstadtbashern, auswärtige „Israelkritiker“ mit ihren feindlichen Pendants, schwärmerischen Evangelikalen vor allem aus den USA.

Wie kommt es, dass ein feinsandiger, sanft gebogener Stadtstrand solche Emotionen freisetzt? Ganz simpel: Gilt den Progressiven dieser Ort als fragile Insel multiethnischer und multisexueller Lebensfreude und Gelassenheit, von dem das restliche, nationalistischer werdende Israel meilenweit entfernt sei, argwöhnen dagegen die Konservativen, dass hier an diesem Strand lediglich hirnloser Hedonismus zelebriert werde, der das ohnehin kleine Land zusätzlich schwäche. Was aber, wenn beide Lager irrten, verfangen in Projektionen, die schon beim ersten Augenschein platzen?

Das Meer bei Jaffa etwa, dem biblischen Joppe, wo der Legende nach der ungehorsame Jona in den Bauch des Wals geriet, nach ein paar Tagen aber wieder unversehrt an Land befördert wurde. Von den steinernen Balkonbrüstungen und Balustraden der verwinkelten Altstadt geht der Blick entlang des Strandes hinüber zu den Skylinegebäuden von Tel Aviv, in den Nächten ein Band wie ein Diadem unter stahlblauem Himmel.

Seit je wohnen in Jaffa Juden und Araber nebeneinander, nicht immer konfliktfrei, doch gemeinsam als israelische Staatsbürger, die sich auf die Einhaltung gemeinsamer Regeln verständigt haben. Auf dem Dach eines strandnahen Gebäudes weht die blauweiße Flagge mit dem Davidstern, doch aus dem Minarett daneben ruft eine Muezzinstimme zum Nachmittagsgebet. Noch steht die Sonne hoch am Himmel, noch sind unten am Strand die ausgebreiteten Badetücher von Paaren und Familien besetzt, nicht selten Kettenrauchende beiderlei Geschlechts, mit der Kippe im Mund gut gelaunt in die anbrandenden Wellen tappend. Nicht unbedingt Adonisse und Dianas unterhalb der Moschee, und nur dem geübten Auge wäre sichtbar, wer hier arabisch ist und wer jüdisch.

Von den muslimischen Strandleuten wird der Gebetsruf nämlich keineswegs als Aufforderung verstanden, nun schnell ihre Sachen zu packen, über die hier noch sehr schmale Promenade zu eilen und sich in der im 17. Jahrhundert erbauten Moschee einzufinden, dem ursprünglich exklusiven Gebetshaus der Jaffaer Fischer.

„Eigentlich könnten ja nun alle zum Beten kommen“, sagt Mahé mit freundlichem Gleichmut, obwohl der junge Mann hier lediglich mit zwei Freunden und dem Vorbeter auf dem Teppich kniet und Koransuren rezitiert, unterhalb der rot blinkenden Digitaltafel der Gebetszeiten. Trotz eines Schildes am altehrwürdigen Mauerwerk, das ein quer durchgestriche- nes Handy zeigt, wird nach dem Gebet wieder mit Smartphone auf dem Diwan Platz genommen, während der Vorbeter dem hereingeschneiten Fremden aus einer Thermoskanne Kaffee mit würzigem Kardamom anbietet und eine Schachtel frischer Datteln öffnet, auf der „made in Israel“ zu lesen ist. Zum hiesigen Politzwist jedoch nur so viel: „Bei euch in Europa habt ihr Probleme, bei uns im Nahen Osten haben die Probleme uns.“

Mahé, der 32-jährige Fischer-Philosoph, pfeift durch die Zähne, erhebt sich langsam vom Diwan, geht dann bärenhaft-bedächtig auf dem Teppich umher, öffnet ein Fenster zum Strand, hat jedoch noch immer keine Lust auf politische Debatten. „Manchmal ist der Fang, wenn frühmorgens die Boote zurückkommen, so riesig ausgefallen, dass unten am Hafen die Preise purzeln und du nur wenig verdienst. Und manchmal kommst du mit leeren Netzen zurück, dann ist’s sogar noch schlimmer. Aber, in sh’Allah, hier ist es trotzdem besser als anderswo, und sag: An welchem Ort könnte ich sonst schon beten, in meinem Rücken direkt das Meer?“ Fundamentalismus? Fehlanzeige. Es scheint, dass dieser schmale Streifen entlang des Mittelmeers tatsächlich eine Art Enklave ist, vielleicht sogar eine konkrete Utopie.


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mare No. 134

No. 134Juni / Juli 2019

Von Marko Martin und Jan Windszus

Marko Martin, Jahrgang 1970, ist Schriftsteller in Berlin und bereist Israel seit 1991. Über seine zweite Heimatstadt hat er mehrere Bücher geschrieben, zuletzt: „Tel Aviv – Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt“.

Jan Windszus, Jahrgang 1976, lebt in Berlin. Im mareverlag erschien sein Bildband „Griechenland“, für den er 2018 die Bronzemedaille beim Deutschen Fotobuchpreis erhielt.

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Vita Marko Martin, Jahrgang 1970, ist Schriftsteller in Berlin und bereist Israel seit 1991. Über seine zweite Heimatstadt hat er mehrere Bücher geschrieben, zuletzt: „Tel Aviv – Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt“.

Jan Windszus, Jahrgang 1976, lebt in Berlin. Im mareverlag erschien sein Bildband „Griechenland“, für den er 2018 die Bronzemedaille beim Deutschen Fotobuchpreis erhielt.
Person Von Marko Martin und Jan Windszus
Vita Marko Martin, Jahrgang 1970, ist Schriftsteller in Berlin und bereist Israel seit 1991. Über seine zweite Heimatstadt hat er mehrere Bücher geschrieben, zuletzt: „Tel Aviv – Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt“.

Jan Windszus, Jahrgang 1976, lebt in Berlin. Im mareverlag erschien sein Bildband „Griechenland“, für den er 2018 die Bronzemedaille beim Deutschen Fotobuchpreis erhielt.
Person Von Marko Martin und Jan Windszus