Tanz in den Tod

Alljährlich beginnt im Frühsommer ein Naturschauspiel wie kein zweites in der Welt. Vor Südafrikas Küste formieren sich Schwärme von Abermillionen Sardinen zur Wanderung nach Norden

Fast jedes Jahr kommt es in den kalten Gewässern vor der Küste Südafrikas zu einem spektakulären Naturphänomen. Zwischen Mai und Juli nämlich wandern gigantische Mengen Sardinen gut 1000 Kilometer nordwärts von der Ostseite des Kaps in Richtung Mosambik. So dicht und riesig ist der Schwarm dieser Fische, dass man ihn sogar vom All aus sehen kann.

Auslöser dieses Schauspiels ist vermutlich der Zusammenprall zweier Meeresströmungen. In den seichten Gewässern der Agulhasbank, wo sich der warme Indische und der kalte Atlantische Ozean treffen, beginnen die Sardinen zu laichen, sobald die optimale Wassertemperatur erreicht ist. Anschließend schwimmen die Fische als gewaltige Biomasse nordwärts.

Verfolgt werden sie dabei stets von einer Meute hungriger Räuber. Es ist beinahe so, als riefe im Ozean ein gigantischer Gong zum Essen. Vögel, Haie, Seehunde, Wale, Delfine, Meeresbewohner von nah und fern lassen alles stehen und liegen, um zu diesem Festmahl zu eilen, bei dem es für alle mehr als genug gibt. Die Schwärme können bis zu 15 Kilometer lang und einen Kilometer breit sein und bewegen sich dicht unter der Wasseroberfläche. Abermillionen Fischleiber formieren sich bei der Wanderung zu scheinbar undurchdringlichen Körpern, die ihnen Schutz vor Angreifern bieten, vor einigen zumindest.

Denn Feinde wie Thunfische und Makrelen sind von dieser ungeheuren Auswahl an Sardinen regelrecht überfordert. Sie sind darauf programmiert, einzelne Fische zu jagen. Bei Schwärmen dieser Größe gibt es aber kaum Nachzügler oder Einzelne, die aus der Reihe tanzen. Die Sardinenmassen scheren gemeinsam aus, teilen sich in kleinere Schwärme auf und vereinigen sich wieder in perfektem Einklang. Das macht es für die Räuber schwierig, sich auf ein einzelnes Beutetier zu konzentrieren.

Größere, intelligentere Räuber hingegen haben Taktiken entwickelt, um die Schwärme aufzuspalten, damit sie sich leichter bewältigen lassen. So kann man beobachten, wie Delfine zusammenarbeiten wie gut ausgebildete Schäferhunde, die sich einer Schafherde annehmen. Sie versuchen, von einem Schwarm kleinere Verbände abzutrennen, die nur noch einen Durchmesser von zehn Metern haben. Sobald sie nicht mehr im Schwarm geschützt sind, geraten die Sardinen in Panik. Die Delfine greifen sie nun von unten an und treiben sie in Richtung Wasseroberfläche, wo ihnen tauchende Möwen und Tölpel zusetzen und so verhindern, dass die Überlebenden wieder im Hauptschwarm Zuflucht finden. In solchen Momenten scheint das Meer kilometerweit weiß zu kochen vor lauter sich ins Wasser stürzenden Tölpeln und durch die Wogen schießenden Delfinen.

Wale und Haie mischen sich ebenfalls ins Geschehen ein. Sie lassen sich von der Schwarmtaktik der Sardinen weniger beirren, sondern schwimmen einfach mit aufgerissenen Mäulern dahin. Es ist ein Gemetzel, das mehrere Tage dauern kann. Von allen Seiten schlagen die Verfolger unerbittlich zu – und trotzdem schaffen es viele Millionen Sardinen bis in die Gewässer vor Mosambik, von wo sie dann ostwärts in den Indischen Ozean abdrehen und sich dort wahrscheinlich zerstreuen.

Die Riesenhaftigkeit der Sardinenschwärme zeugt davon, wie groß der Überlebensspielraum bemessen ist. Würde sich aus jedem Ei ein Fisch entwickeln und dieser wiederum überleben, könnte man von Mosambik nach Madagaskar trockenen Fußes über die Leiber einer festen Masse von Sardinen gehen. Dem ist nur deshalb nicht so, weil beinahe jährlich Jungfische und ausgewachsene Fische in Massen verschlungen werden.

Aus dem Englischen von Thomas Bodmer.


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mare No. 86

No. 86Juni / Juli 2011

Von James Hamilton-Paterson

James Hamilton-Paterson, Jahrgang 1941, britischer Journalist, Lyriker, Sachbuchautor und Romancier mit Wohnsitz in Oberösterreich, verspürt schon lange eine gewisse Faszination für das Wort „Sardine“, weil es sich von „Sardinien“ ableitet. Dort hat Hamilton-Paterson in den 1980er Jahren für einige Zeit gelebt – und fand es richtig schön.

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Vita James Hamilton-Paterson, Jahrgang 1941, britischer Journalist, Lyriker, Sachbuchautor und Romancier mit Wohnsitz in Oberösterreich, verspürt schon lange eine gewisse Faszination für das Wort „Sardine“, weil es sich von „Sardinien“ ableitet. Dort hat Hamilton-Paterson in den 1980er Jahren für einige Zeit gelebt – und fand es richtig schön.
Person Von James Hamilton-Paterson
Vita James Hamilton-Paterson, Jahrgang 1941, britischer Journalist, Lyriker, Sachbuchautor und Romancier mit Wohnsitz in Oberösterreich, verspürt schon lange eine gewisse Faszination für das Wort „Sardine“, weil es sich von „Sardinien“ ableitet. Dort hat Hamilton-Paterson in den 1980er Jahren für einige Zeit gelebt – und fand es richtig schön.
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