Sturm und Tang

An den Strand der Orkneys spült der Atlantik kostenlosen Rohstoff

Eine zweistündige Schifffahrt über den Pentland Firth trennt das schottische Festland von den Orkney-Inseln. Zwei Stunden, in denen der Besucher in eine Welt hinübergleitet, deren Flair sich allen schottischen Stereotypen entzieht. Orkney ist eine Welt für sich, ihre Einwohner bezeichnen sich als Orcadians, schottisch fühlen sie nur gelegentlich, britisch erst recht nicht, und wehe dem, der sie versehentlich als Engländer bezeichnet.

Eine weitere, fast zweistündige Passage führt nach Westray am nordwestlichen Rande des Orkney-Archipels. Hier sind Tom, Tommy und Kevin Rendall zu Hause. Verwandt seien sie nicht miteinander, sagt Tommy Rendall, jedenfalls nicht soweit sich die Stammbäume der Familien zurückverfolgen ließen. Von den 600 Einwohnern der Insel hören noch 32 weitere Familien auf den Namen Rendall. Sie leben überwiegend vom Fischfang und von der Viehzucht. Das tun auch Tom und Kevin, doch während der stürmischen Wintermonate nutzen sie jede freie Minute, um einer weiteren Tätigkeit nachzugehen: Sie sammeln Seetang.

„Wir sind nur noch wenige“, beklagt sich Tom Rendall, „Seetang sammeln lohnt sich für die meisten nicht mehr. Viel mehr als sie an Arbeitslosenhilfe vom Staat bekommen, können sie dabei nicht verdienen.“ Dann bückt er sich wieder und zieht einen weiteren Seetangstiel aus der meterhohen Algenmasse, die das Meer hier während des Winters anspült. Ein anstrengender Job, den glitschigen Rohstoff ins Trockne zu bringen.

Die wenigen Stunden Tageslicht verbringt Tom gemeinsam mit seinen beiden Hunden Flora und Scruffy am steinigen Strand von Rackwick. Und während seine beiden Vierbeiner den Kaninchen nachjagen und dabei auch gelegentlich einen Otter aufscheuchen, zählt Tom jeweils 200 bis zu zwei Meter lange Seetangstiele in ein Bündel. „200 Stiele sind getrocknet rund sechs Pfund wert“, sagt er. Etwa 18 Mark. „An einem guten Tag schaffe ich acht Bündel, macht 48 Pfund.“ 140 Mark – „Eigentlich kein schlechter Tageslohn, oder?“

Doch mit dem Sammeln allein ist es nicht getan. Zunächst einmal muss die triefende Fracht vor der nächsten Flut in Sicherheit gebracht werden. Mit Hilfe eines altertümlichen Traktors schleppt Tom das einige Zentner schwere Bündel bis oberhalb des Spülsaums. Anschließend legt er die „tangles“, die bis zu zwei Meter langen Tangstiele, auf Gestellen und Überresten alter Mauern zum Trocknen aus. Denn der Aufkäufer zahlt nur für getrockneten Seetang – derzeit 176 Pfund Sterling pro Tonne.

Tom Rendall ist ein Original, „a real character“, wie man in diesem Teil der Welt sagt. Seine Augen versprühen pure Lebenskraft, und er erzählt ununterbrochen Anekdoten aus der jüngeren Geschichte der Orkneys – wie zum Beispiel die Story von Archie Angel: Als im Jahre 1730 ein russisches Schiff auf den Felsen von Aikerness strandete, ertrank die gesamte Mannschaft mit Ausnahme eines Babys, das sich auch an Bord befand. Seine Eltern besaßen offenbar die Geistesgegenwart, es an einen Hund zu binden, der mitsamt des Babys an Land schwamm. Dort wurde es gefunden und von einer Familie großgezogen. Und da der Name des Babys unbekannt war, wurde es Archie Angel genannt, abgeleitet von der russischen Stadt Archangelsk, dem Heimathafen des havarierten Schiffes. Bis in dieses Jahrhundert hinein, so behauptet Tom Rendall, sei der Name Angel auf Westray weit verbreitet gewesen. Was aus dem Hund geworden ist, weiß er allerdings nicht. Tom grinst sein breitestes Grinsen, und die Lachfalten kerben sich noch tiefer in das Gesicht des 60-jährigen ein.

Seetang, genauer Palmentang (Laminaria hyperborea), wächst auf Felsen in Wassertiefen bis zu 15 Metern. Die stürmische See zwischen September und April reißt die schier unerschöpfliche Ressource los und spült sie tonnenweise an die Gestade der insgesamt 67 Orkney-Inseln. Schätzungen der Inselverwaltung beziffern die Vorkommen des nachwachsenden Naturprodukts auf mehr als sechs Millionen Tonnen an ausgesuchten Buchten. Was hier auf den ersten Blick wie ein Werkstoff aus längst vergangener Zeit scheint, stellt sich beim genaueren Hinsehen als wesentlicher Bestandteil unserer modernen Lebensmittelindustrie heraus. Kaum ein Produkt aus dem Supermarkt, das nicht in irgendeiner Weise Seetang enthält. Ohne Toms unermüdlichen Einsatz in Sturm und Tang wäre das Fertiggericht aus dem Kühlregal im Supermarkt nur eine unansehnliche Pampe. Eiscremes, Salatdressings, Konditoreiprodukte – sie würden sich entweder in ihre Bestandteile auflösen oder sich in triefenden Matsch verwandeln.

Denn unsere modernen Essgewohnheiten verdanken wir einer bemerkenswerten Eigenschaft der Braunalgen, zu denen auch der Seetang zählt. Sie enthalten Alginsäure, aus der in einem komplizierten chemischen Prozess verschiedene Salze, die Alginate, gewonnen werden, die das Verhalten von Wasser verändern. Sie werden eingesetzt als Verdickungsmittel und als Stabilisatoren, besser bekannt unter ihren Pseudonymen E 400 bis E 405, um zusammenzuhalten, was eigentlich nicht zusammengehört.

Wer beim Zahnarzt jemals die Prozedur eines Zahnabdrucks hat über sich ergehen lassen, weiß, wie Alginate wirken. Die unansehnliche Knetmasse, die einem in den Mund gepresst wird, besteht zum großen Teil aus Seetang. Doch nicht nur das: Die Wirkungsweise mancher pharmazeutischer Produkte wäre ohne den gezielten Einsatz von Alginaten nicht denkbar. Die Quellkraft und pharmazeutische Reinheit der Alginsäure hilft bei der gezielten Auflösung von Tablettenwirkstoffen in der Blutbahn.


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mare No. 17

No. 17Dezember 1999 / Januar 2000

Von Hans J. Marter und Rolf Nobel

Hans J. Marter, Jahrgang 1960, lebt als freier Journalist auf den Shetland-Inseln. In mare No. 12 hat er den Orkney-Komponisten Sir Peter Maxwell Davies porträtiert.

Rolf Nobel, Jahrgang 1950, ist Fotograf der Hamburger Agentur Visum. In Heft 16 erschienen seine Bilder der Luft-Schiffe von Bali

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Vita Hans J. Marter, Jahrgang 1960, lebt als freier Journalist auf den Shetland-Inseln. In mare No. 12 hat er den Orkney-Komponisten Sir Peter Maxwell Davies porträtiert.

Rolf Nobel, Jahrgang 1950, ist Fotograf der Hamburger Agentur Visum. In Heft 16 erschienen seine Bilder der Luft-Schiffe von Bali
Person Von Hans J. Marter und Rolf Nobel
Vita Hans J. Marter, Jahrgang 1960, lebt als freier Journalist auf den Shetland-Inseln. In mare No. 12 hat er den Orkney-Komponisten Sir Peter Maxwell Davies porträtiert.

Rolf Nobel, Jahrgang 1950, ist Fotograf der Hamburger Agentur Visum. In Heft 16 erschienen seine Bilder der Luft-Schiffe von Bali
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