Stunde des Lichts

Die Cenotes, die Kalksteinhöhlen auf der mexikanischen Karibik­halbinsel Yucatán, sind ein mythischer Ort seit Mayazeiten. Ihre Rätsel faszinieren Höhlenforscher und locken mutige Touristen

Wenn Tom Iliffe taucht, dann ist ihm, als würde er schweben. Er gleitet durch Höhlen, vorbei an pfeilspitzen Tropfsteinen und mächtigen Felsen, durch schmale Tunnel, die niemals zu enden scheinen. Weiße Punkte tanzen im Lichtstrahl seiner Tauchlampe, winzige Krebse, die aussehen wie Schneeflocken. Nicht eine, sondern zwei Sauerstoffflaschen trägt er auf dem Rücken, für alle Fälle. Wer im Meer taucht, kann schnell zurück an die Oberfläche, falls etwas schiefgeht. Die Höhle aber wird zum Gefängnis. „360 Grad Fels, ringsumher“, sagt Iliffe, „da darf man nicht in Panik geraten.“ Wichtig ist, nicht den Boden zu berühren. Wenn das puderfeine Sediment aufgewirbelt wird, wäre die Sicht binnen Sekunden vernebelt. Keine Orientierung, kein Weg zurück. „Beim Höhlentauchen gibt es kaum Verletzte“, sagt Iliffe, „denn wenn etwas passiert, dann endet das fast immer tödlich.“

Iliffes Tauchrevier sind die Kalksteinhöhlen von Yucatán. Tief unten im Boden der mexikanischen Halbinsel schlängeln sich unzählige Wasserpfade und bilden das größte zusammenhängende Unterwasserhöhlensystem der Erde. Der längste Tauchpfad windet sich 180 Kilometer durch den Untergrund. Millionen Jahre lang haben Regen und Sickerwasser am Stein geleckt, Körnchen für Körnchen fortgespült und Rinnen und Grotten in den Kalk genagt. Leer und ausgehöhlt, gab der Boden an vielen Stellen nach, sodass mitten im Regenwald tiefe Krater entstanden. Yucatán ist regelrecht durchlöchert, eine Landmasse wie ein Schwamm. 3000 dieser Einsturztrichter kennt man. Wissenschaftler nennen sie Cenoten.

Für die Maya waren die Cenoten die Eingangstore zur Unterwelt. Durch die schmalen Löcher warfen sie lebende und tote Menschen in die Grotten, um den Göttern zu danken. Für Tom Iliffe sind die Löcher der Eingang zu einem der faszinierendsten und gefährlichsten Tauchreviere der Welt. Auf Satellitenkarten von Yucatán erkennt man die Cenoten als blauschwarze Punkte. Sie sind überall, in der Nähe des Seebads Cancún oder tief verborgen im Wald. Chichén Itzá, die weltberühmte Tempelstadt der Maya, wurde nach einem Cenotenschacht benannt. Wörtlich übersetzt heißt Chichén Itzá „am Mund des Brunnens der Itzá“. Manche Grotten sind so lieblich wie Waldschwimmbäder. Urlauber steigen hinab ins Halbdunkel, wo sie einige Runden schwimmen und planschen, angestrahlt von der Sonne, die einmal am Tag durchs Loch stößt wie ein Scheinwerfer auf die Theaterbühne.

Die Halbinsel Yucatán, die sich wie eine riesige Zungenspitze in den Golf von Mexiko hinausstreckt, ist die Riviera Mittelamerikas. An den Stränden werben Tauchschulen für das übliche „open water diving“ im Meer, Fahrten hinaus in die bonbonbunte Fischwelt des großen mittelamerikanischen Korallenriffs, nur einige Bootsminuten entfernt. Manche Tauchlehrer aber bringen ihre Gäste in den Wald. Auf der Ladefläche ihrer Geländewagen liegen nicht nur Neoprenanzüge, Atemregler und Sauerstoffflaschen, sondern auch Kletterseile und Karabinerhaken. Wer in die Höhlen will, muss tief hinunter, zehn, 20 Meter bis zur Wasseroberfläche. Erst dann beginnt der Tauchgang. Ungeübte dürfen 50, vielleicht 100 Meter hinaus ins Dunkel schwimmen, dann ist Schluss, zu gefährlich.

So weit wie Tom Iliffe kommt kaum einer. Der Biologe von der Texas A&M University in Galveston taucht seit mehr als 30 Jahren in Kalkstein- und Vulkanhöhlen – auf den Bahamas, den Bermudas, den Kanarischen Inseln und natürlich in Yucatán. Iliffe schwimmt mehrere hundert Meter hinein in die Grotten. Er späht im Wasser nach winzigen schwimmenden Wesen, sucht die Felswände Meter für Meter nach krabbelndem Getier ab, das zurückgezogen und versteckt auf und in den Felsen lebt. Gelegentlich gleiten blinde, fleischige Fische wie unförmige Embryos über die Höhlenböden. Seit einigen Jahren wissen Biologen, dass in den Kalksteinhöhlen Yucatáns mehrere Dutzend eigentümliche Spezies hausen, die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Viele von ihnen hat Iliffe entdeckt.

Die Fauna der Cenoten ist so außergewöhnlich, weil durch die Höhlen nicht nur Süß-, sondern auch Salzwasser fließt. An der Küste dringt Meerwasser ein und strömt in der Tiefe viele Kilometer landeinwärts. Mit dem Regen wiederum gelangt von oben Süßwasser in das unterirdische Höhlensystem. Da Süßwasser wenig Salz enthält und leichter ist, lagert es sich wie Speiseöl auf dem tiefen Salzwasser ab. Der Übergang zwischen süß und salzig ist abrupt. Forscher nennen diese scharfe Trennlinie Halokline. Entsprechend haben sich die Tiere in den Höhlen verteilt. In der Beletage wohnen die Süßwasserliebhaber, im Keller die Meerwasserorganismen. „Eine solche Schichtung gibt es nur an ganz wenigen Plätzen der Erde“, sagt Iliffe.

Obwohl er die Halokline schon Hunderte Male durchschwommen hat, ist er bei jedem Tauchgang aufs Neue fasziniert. „Du tauchst im kristallklaren Süßwasser ab, dann siehst du plötzlich unter dir eine Schlierenschicht, so als würde sich Whisky mit Wasser vermengen. Dann, wenn du in die Halokline eintauchst, siehst du für Sekunden nur noch Flirren, alles wird unscharf. Sobald du sie durchbrochen hast und ins Salzwasser vorstößt, hast du wieder perfekte Sicht.“ Manche Taucher spielen mit der Halokline, geben ihr einen Stups, sodass sie Wellen schlägt. „Man kann sich sogar in die Wellen hineinlegen und darauf reiten“, sagt Illife. Surfen hundert Meter unter der Erdoberfläche.

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mare No. 80

No. 80Juni / Juli 2010

Von Tim Schröder und James Pomerantz

Der Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, hat das Tauchen in einem Baggersee bei Oldenburg gelernt. Auch da gab es kein Oben und Unten, allerdings nicht wegen der atemberaubend weiten Felsenlandschaft, sondern weil das Wasser völlig veralgt war. Sichtweite: weniger als ein Meter.

Der New Yorker Fotograf James Pomerantz, geboren 1977, reiste zusammen mit seiner Freundin zu den Cenoten nach Yucatán – und machte ihr dort einen Heiratsantrag. „Zum Glück hat sie Ja gesagt.“

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Vita Der Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, hat das Tauchen in einem Baggersee bei Oldenburg gelernt. Auch da gab es kein Oben und Unten, allerdings nicht wegen der atemberaubend weiten Felsenlandschaft, sondern weil das Wasser völlig veralgt war. Sichtweite: weniger als ein Meter.

Der New Yorker Fotograf James Pomerantz, geboren 1977, reiste zusammen mit seiner Freundin zu den Cenoten nach Yucatán – und machte ihr dort einen Heiratsantrag. „Zum Glück hat sie Ja gesagt.“
Person Von Tim Schröder und James Pomerantz
Vita Der Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, hat das Tauchen in einem Baggersee bei Oldenburg gelernt. Auch da gab es kein Oben und Unten, allerdings nicht wegen der atemberaubend weiten Felsenlandschaft, sondern weil das Wasser völlig veralgt war. Sichtweite: weniger als ein Meter.

Der New Yorker Fotograf James Pomerantz, geboren 1977, reiste zusammen mit seiner Freundin zu den Cenoten nach Yucatán – und machte ihr dort einen Heiratsantrag. „Zum Glück hat sie Ja gesagt.“
Person Von Tim Schröder und James Pomerantz