Studentenfutter

Curanto, das Festessen der Chiloé-Inseln in Patagonien, ist all­monatlicher Höhepunkt in einem Restaurant in Chiles Hauptstadt

Die böse Meeresschlange Caicavilú trennte Chiloé vom südamerikanischen Kontinent, so die Legende. Sie hob den Meeresspiegel an, um das Land zu überschwemmen und so zu einem Teil ihres Königreichs machen. Doch die gute Schlange Tentevilú ließ Hügel wachsen, die dann als Inseln aus dem Wasser ragten, sodass die Menschen sich darauf retten konnten.

Ob es nun Caicavilú war, die den Meeresspiegel anhob, oder sintflutartige Regenfälle, die die Inseln des Chiloé-Archipels überschwemmten – erwiesenermaßen bauten die Chiloten die Häuser auf Pfählen. Und sie bereiteten ihr Curanto mit Meeresfrüchten, Fisch und Fleisch zu, gekocht in einem Erdloch. Mindestens seit 6000 Jahren, haben Archäologen herausgefunden. Die Technik war beinahe wie heute, vermuten sie: ein Erdloch, eineinhalb Meter tief, ausgelegt mit Pflanzenblättern, darauf glühend heiße Steine als Hitzequelle. Darauf kamen die Zutaten, und darüber wieder Pflanzenblätter, beschwert mit Erde, damit eine Art natürlicher Dampfdrucktopf entstand. Auch das Rezept war damals ähnlich, doch die Archäologen fanden nicht nur Muscheln, Gräten und Säugetierknochen, sondern auch Walreste in einem Erdloch.

Walfleisch gehört nicht zum Rezept, wenn Minor Braniff, 74, sich seine Schürze umbindet und Curanto kocht. Immer am ersten Samstag im Monat in der „Casa Chilota“, für mehr als 100 Leute.

Curanto, das kocht man nicht für eine Kleinfamilie. Es ist ein Festtagsgericht, erst recht hier in Chiles Hauptstadt Santiago. Auch Minor Braniff kommt von den Inseln. Seine Geschwister heißen Virginia, Ohio, Michigan, alle nach US-Bundesstaaten. Nur aus Maine wurde Minor – als der Fehler auffiel, war die Geburtsurkunde bereits ausgefüllt.

Sein Curanto-Rezept? Meeresfrüchte aller Art, darunter Miesmuscheln und Venusmuscheln, außerdem Hühnchen, scharf gewürzte Würste, Kartoffeln, Möhren, alles hinein damit. Abdecken mit einem großen Blatt der Nalca-Pflanze. Und wenn man, wie Braniff heute, gerade kein Erdloch mit Steinen und Feuer aus Tepú-Holz zur Verfügung hat, gehen auch Töpfe. Der Vorteil: Die Flüssigkeit versickert nicht in der Erde. Braniff wird sie Stunden später abschöpfen; es ist ein Konzentrat und für Curanto-Anfänger kaum trinkbar, aber für die Insulaner eine Delikatesse. „Mit magischen Eigenschaften“, sagt Braniff, und die jungen Männer, die gerade die Muscheln waschen, lachen dazu.

Alle helfen mit, wenn Braniff Curanto für eine Hundertschaft kocht. Die Studenten, die die Muscheln waschen, wohnen im ersten Stock. Carlos, der Hausmeister, wäscht das Huhn. Eine Rentnerin macht Chapalele, flache Brote, die zum Curanto gehören wie der Regen zu Chiloé. Keinen trockenen Tag gebe es auf den patagonischen Inseln, es regne 13 Monate im Jahr. Die „Casa Chilota“ gibt sich wie die Botschaft der Chiloé-Inseln. Doch ist sie eigentlich ein Sozialprojekt, das sich durch das allmonatliche Curanto-Essen finanziert: günstige Zimmer für Studenten. Und wenn ein Chilote ins Krankenhaus in Santiago muss, können seine Begleiter kostenlos übernachten.

Fünf Töpfe, keiner fasst weniger als 45 Liter. Erst nach Stunden lüftet Braniff die Deckel, seine Brille beschlägt. Das Servieren geht schnell, dank eines Tricks. „Früher haben wir mühsam in den Töpfen fischen müssen, damit jeder Gast gleich viele Muscheln, gleich viel Huhn, gleich viel Fisch, gleich viele Kartoffeln und Karotten auf dem Teller hat“, sagt Braniff. „Dabei verbrannte man sich die Finger.“ Jetzt kauft er Plastiknetze, wie sie in Obst- und Gemüseläden verwendet werden. In jedes Netz kommt die gleiche Menge aller Zutaten, dann kommt beim Kochen nichts durcheinander. Wenn die Garzeit vorbei ist, zieht sich Braniff Plastikhandschuhe über und die Netze aus dem Topf. Zum Servieren öffnet er sie, kippt den Inhalt auf die Teller – fertig.

Im Festsaal singen die Gäste die Inselhymne: „Chiloé ist meine geliebte Heimat / mit ihren endlosen Feldern und Stränden / aufrecht überqueren dich deine Wolken / und sagen eine glückliche Zukunft voraus.“ Sich zu Hause fühlen, weit weg von den Inseln, geht das? Eine ältere Dame sagt: „Ja, wenigstens einmal im Monat. Hier beim Curanto in der ,Casa Chilota‘.“


Curanto à la Minor Braniff

Zutaten (für vier Personen)
1,5 kg Venus- und Miesmuscheln, 1 Longaniza (Paprikawurst), 600 g geräucherte Schweinerippchen, 1/2 Huhn, 2 Zwiebeln, 1 kg Kartoffeln, 800 ml Weißwein, 4 Tassen Wasser.

Zubereitung
Muscheln und Kartoffeln waschen. Einen sehr großen Topf nehmen und Zwiebeln in Öl anbraten. Dann die übrigen Zutaten hinzugeben. Deckel drauf. Bei starker Hitze kochen. Das Curanto ist fertig, wenn die Kartoffeln gar sind. Die Bouillon separat servieren.

Casa Chilota
García Reyes 596, Yungay, Santiago de Chile, Telefon +56 2 2681 6741, corpchiloe@yahoo.es.

Das Curanto-Festessen findet immer am ersten Samstag im Monat statt. Beginn ab 20.30 Uhr. Vorherige Anmeldung erbeten.

 

mare No. 113

No. 113Dezember 2015 / Januar 2016

Von Karen Naundorf und Tomás Munita

Karen Naundorf, Jahrgang 1975, ist Korrespondentin des Weltreporter-Netzwerks in Südamerika.

Tomás Munita, geboren 1975 in Chile, ist unabhängiger Dokumentarfotograf mit Hauptinteresse an sozialen und ökologischen Fragen. Tomás hat mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter sind mehrere World Press Photo Awards in den Jahren 2006, 2013 und 2017 und 2010 der Henri Nannen Preis.

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Vita Karen Naundorf, Jahrgang 1975, ist Korrespondentin des Weltreporter-Netzwerks in Südamerika.

Tomás Munita, geboren 1975 in Chile, ist unabhängiger Dokumentarfotograf mit Hauptinteresse an sozialen und ökologischen Fragen. Tomás hat mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter sind mehrere World Press Photo Awards in den Jahren 2006, 2013 und 2017 und 2010 der Henri Nannen Preis.
Person Von Karen Naundorf und Tomás Munita
Vita Karen Naundorf, Jahrgang 1975, ist Korrespondentin des Weltreporter-Netzwerks in Südamerika.

Tomás Munita, geboren 1975 in Chile, ist unabhängiger Dokumentarfotograf mit Hauptinteresse an sozialen und ökologischen Fragen. Tomás hat mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter sind mehrere World Press Photo Awards in den Jahren 2006, 2013 und 2017 und 2010 der Henri Nannen Preis.
Person Von Karen Naundorf und Tomás Munita