Stehaufmännchen

Eine Minderheitstheorie, heftig umstritten und ein Lehrstück des Wissenschaftbetriebs: Der Mensch stammt von Wasseraffen ab

Der Rezensent des Hamburger Wochenblatts „Die Zeit“ vom 31. März 1949 ist begeistert. „Die Grundlagen meiner Theorie vom Eigenweg des Menschen“ des Berliner Professors Max Westenhöfer seien ein wahrhaft epochales Werk. Der Autor beantworte mithilfe eines ungeheuren Fundus zoologisch-anatomischen Vergleichsmaterials „bestfundiert“ die Frage nach dem stammesgeschichtlichen Ursprung des Menschen. Die Kernthese Westenhöfers, Schüler von Rudolf Virchow und Direktor des Berliner Pathologischen Museums: Der Mensch stamme keineswegs von affenartigen Vorfahren ab. Vielmehr gehe er  als primitives Säugetier direkt auf lurchartige Vorfahren zurück und habe deren amphibische Lebensweise erst in evolutionär jüngster Zeit abgelegt.

Westenhöfers damalige These liegt längst ad acta. Doch mit seiner Idee einer aquatilen Menschwerdung gilt Westenhöfer als frühester Vertreter der sogenannten Wasseraffentheorie, die außerhalb der Wissenschaft bis heute Anhänger findet.

Das verdankt sie weniger Westenhöfer, dessen Schriften kaum Nachwirkung hatten. Vermutlich unabhängig von ihm entwickelte der britische Meeresbiologe Alister Hardy seine eigene, eher auf  darwinistischen Fundamenten ruhende  Variante, die er erst 1960 im britischen Wissenschaftsmagazin „New Scientist“ unter dem Titel „War der Mensch in der Vergangenheit aquatischer?“ vorstellte.

Hardy schrieb: „Meine These ist, dass einige unserer frühen Vorfahren durch Konkurrenz gezwungen waren, statt auf Bäumen am Meeresufer und im Flachwasser der Küste nach Nahrung in Form von Schalentieren oder Seeigeln zu suchen. Ich stelle ihn mir im Wasser watend vor, zunächst noch gebeugt und fast auf allen Vieren im Wasser herumtastend und nach Schalentieren buddelnd. Dann sehe ich ihn nach und nach zu einem guten Schwimmer werden: ein aquatisches Tier, das sich immer weiter vom Ufer entfernt, nach Schalentieren taucht und Würmer, Krabben und Muscheln aus dem Sand am Grunde flacher Meere hervorholt, Seeigel knackt und mit wachsender Geschicklichkeit mit bloßen Händen Fische fängt.“

Hardy vergleicht dieses Szenario mit dem evolutionären Weg von Meeres­säugern wie Walen oder Seekühen, die ­tatsächlich ebenfalls von landlebenden Vorfahren abstammen. Wie weit die anato­mische Anpassung an das nasse Element gegangen sei, lässt Hardy offen, ebenso die Frage, warum seine Wasser­affen nach ein paar Millionen Jahren das Wasser wieder verließen, um als mittlerweile aufrecht gehende Frühmenschen das Land zu erobern.

Für seine Theorie liefert Hardy nur indirekte Indizien. Unsere Fähigkeit zu schwimmen, eine vermeintlich angeborene Liebe zum Wasser, unsere wie bei Walen nackte, durch Unterhautfettgewebe isolierte Haut oder der strom­linienförmige Verlauf unserer verbliebenen Behaarung sind demnach evolutionäre Überbleibsel des Wasserlebens. „Meine These ist natürlich reine Spekulation. Eine Hypothese, die an weiterem Beweismaterial getestet werden muss“, gibt Hardy zu.

Unter Frühmenschenforschern stieß sie auf wenig Begeisterung und wäre wohl in Vergessenheit geraten, hätte sie nicht mit der britischen Schriftstellerin Elaine Morgan (1920–2013) eine eloquente Fürsprecherin gefunden. Morgan suchte nach einer Alternative zum damals vorherrschenden Szenario einer Menschwerdung in der Savanne, in dem der aufrecht durchs hohe Gras schleichende Mann die Rolle des Jägers und die Frau die der sorgenden Mutter einnimmt. Dieses Geschlechterbild behagte der Feministin Morgan nicht. Mit Hardys Wasseraffen glaubte sie, eine plausiblere und gleichzeitig gleichberechtigtere Theorie gefunden zu haben. Ab 1972 propagierte sie in Bestsellern wie „The Descent of Woman“ ihre eigene Fassung der Wasseraffentheorie, der sie bis zu ihrem Tod treu blieb.

Auch moderne Wasseraffentheoretiker gehen davon aus, dass sich bestimmte  Merkmale des Menschen am besten als Erbe einer Evolutionsphase im Meer oder Süßwasser erklären lassen. Neben Hardys Indizien führen sie dafür die bei mensch­lichen Föten zwischen den Fingern zu findenden „Schwimmhäute“, den bei Neu­geborenen ausgeprägten Tauchreflex oder unsere Abhängigkeit von Spurenelementen und essenziellen Fettsäuren aus Meeresfrüchten an.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 116. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 116

No. 116Juni / Juli 2016

Von Georg Rüschemeyer

Eine genetisch veranlagte Affinität des Menschen zum Wasser scheint zumindest auf Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, Wissenschaftsjournalist im englischen York, zuzutreffen. Sobald es die Temperaturen zuließen, verbrachte er als Jugendlicher einen großen Teil seiner Freizeit mit Schnorchel und Taucherbrille im örtlichen Baggersee.

Mehr Informationen
Vita Eine genetisch veranlagte Affinität des Menschen zum Wasser scheint zumindest auf Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, Wissenschaftsjournalist im englischen York, zuzutreffen. Sobald es die Temperaturen zuließen, verbrachte er als Jugendlicher einen großen Teil seiner Freizeit mit Schnorchel und Taucherbrille im örtlichen Baggersee.
Person Von Georg Rüschemeyer
Vita Eine genetisch veranlagte Affinität des Menschen zum Wasser scheint zumindest auf Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, Wissenschaftsjournalist im englischen York, zuzutreffen. Sobald es die Temperaturen zuließen, verbrachte er als Jugendlicher einen großen Teil seiner Freizeit mit Schnorchel und Taucherbrille im örtlichen Baggersee.
Person Von Georg Rüschemeyer