Sport auf Langwelle

Auf dem englischen Severn schiebt die Flut eine steile Brandung vor sich her – zur Freude der Wellenreiter

Die Natur gibt ein Schauspiel, und Familie Conway hat einen Platz in der ersten Reihe ergattert. „Noch drei Minuten.“ Richard Conway richtet seine Kamera auf das gegenüberliegende Ufer. Ein Flussidyll. Träge zieht der schlammbraune Severn gen Westen. Weiden streicheln spiegelglattes Wasser, Kühe stapfen durchs Bild, wie in Zeitlupe. „Zwei Minuten.“ Noch einen Tee? Jenny Conway schraubt die Thermoskanne wieder zu. Lieber nicht. Hinter ihr flüstert jemand: „Wie bei der Sonnenfinsternis.“ Die Leute rechts falten jetzt die Sonntagszeitung zusammen, links rücken sie näher an das steile Ufer vor.

„Hört ihr? Da rauscht was.“ Ein Brausen kommt näher, klingt vertraut und gehört doch nicht hierher, der Fluss fließt so friedlich. Das Tosen nimmt zu, Richards Nachbar erkennt es jetzt: „So rauscht das Meer.“ Dann rundet das Brausen die Biegung im Fluss. „Da!“ Plötzlich schäumt der Severn, milchkaffeebraune Brandung walzt flussauf. „Pass auf!“ Die Zuschauer fummeln noch an ihren Kapuzen, da klatscht zu ihren Füßen die Welle gegen die Böschung und erwischt sie alle mit einer kalten Fontäne.

Und in der Mitte des mächtigen Schwalls steht ein Mann, die Arme bequem hinter dem Rücken verschränkt, auf seinem Surfbrett. Lässt sich vom wirbelnden Wasser flussaufwärts schieben, gleitet ruhig vor der aufgebrachten Welle. Rechts und links knallen schmutzige Geysire wie Ohrfeigen an der Böschung hoch, und der Wellenreiter winkt. Das ist Dave.

Der erste Akt des Spektakels beginnt schon auf hoher See. 200 Meilen vor der englischen Küste stößt die Flut am Festlandssockel auf Widerstand. Sie verlangsamt ihre Fahrt, doch von hinten drängt mehr Wasser nach, der Flutberg wächst. Dann müssen die Massen durch den Bristol Channel: ein Trichter, 100 Meilen breit am Eingang, gerade noch fünf am Ende. Die Vorhut der Flut bremst heftig, doch der Nachschub vom offenen Meer macht noch Tempo und versucht, die Spitze zu überholen. Vorn hält das Wasser den Druck nicht mehr aus. Es staut sich, es türmt sich, es kippt nach vorne über – und rast als Welle weiter.

Das nächste Hindernis auf dem Severn: Stromauf vom Mündungshafen Sharpness kracht die Welle auf die Klippen von Hock. Sie formiert sich neu und rauscht an Newnham vorbei, nach Broadoak, Westbury, Framilode. Hier schwingt sich die Tide auf ihren höchsten Stand; mit einem Pegel von 15,20 Metern über Niedrigwasser muss sie sich im weltweiten Vergleich der mächtigsten Gezeiten nur der kanadischen Bay of Fundy beugen. Aber weiter: Der Schwung trägt das Wasser voran, mit 30 Kilometern pro Stunde stürmt die Welle auf Rodney zu.

Hier liegt Dave Lawson auf der Lauer.
Bäuchlings auf seinem Surfbrett, im dicken Neoprenanzug, wartet er hier, wenn Mond und Sonne mit vereinter Anziehungskraft für mächtige Springfluten sorgen. Dave ist gelassen. Keine hektischen Bewegungen, kein Blick über die Schulter. Er kennt seine Welle, weiß genau, wo sie steil genug ist, um ihn auf Gleitgeschwindigkeit zu beschleunigen. Mit den Händen paddelt er sein Surfbrett auf Kurs, er macht noch ein paar kräftige Armzüge, da rollt die Welle schon heran. Sie hebt sein fünf Meter langes Brett von hinten an, fast scheint es, als würde Dave von der Gischt verschluckt, aber dann schießt das Surfboard bergab und fährt den Turbulenzen davon.

Dave stützt sich mit den Armen auf. Seine Welle passiert Ministerworth, dann Weir Green, Stonebench und ein paar hundert Zuschauer in Regenjacken. Dave lächelt, er schaut zum Ufer, er winkt.

Die Tidenwelle heisst Bore im Englischen, wahrscheinlich eine Anleihe bei den Wikingern. In Island sagen sie „bára“ zu Wellen, die der Wind angeschoben hat, und im Schwedischen bezeichnet „bår“ einen Hügel. In den Wortschatz der Wellenreiter geht das Wort mit dem Sommer des Jahres 1955 ein, als sich der britische Colonel James Churchill erstmals mit dem Surfbrett auf die berüchtigten Fluten des Severn wagt. Ein paar hundert Meter trägt die Welle den Mann, dann schlägt sie krachend über ihm zusammen. Churchill schluckt braunes Wasser und schwört, es bei der nächsten Springflut wieder zu versuchen. Leider verlieren die Chronisten des Sports seine Spur.

Ein paar Jahre später unternehmen zwei Rettungsschwimmer aus dem fernen Australien einen neuen Anlauf. Auch ihnen will der Langstreckenritt nicht gelingen. Aber ihre Lebensfreude und die athletische Eleganz ihres Sports hinterlassen einen tiefen Eindruck bei dem Jungen, der ihnen vom Ufer nahe Stonebench zusieht. Erstaunlich, wie sich manche Erlebnisse im Gedächtnis verankern. Wie sie da festhaken und einen Menschen nicht mehr loslassen. Dave Lawson schaut auf die Australier und beschließt, Wellenreiter zu werden. Im Augenblick reift ein Lebensplan: Er würde einen Beruf erlernen, ein Auto kaufen und an die Strände von Wales und Devon fahren, um diesen Sport zu meistern. Und dann würde er als Erster auf den Wogen des Bore reiten. Eine einsame Berufung. Gloucestershire ist Rugbyland. Niemand sonst verschwendet auch nur einen Gedanken an das Wellenreiten.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 35. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 35

No. 35Dezember 2002 / Januar 2003

Von Olaf Kanter

Olaf Kanter, mare-Redakteur für Wirtschaft und Wissenschaft, ist Liebhaber außergewöhnlicher Sportarten. Für mare No. 19 stieg er in Eislöcher der winterlichen Ostsee, für mare No. 21 begleitete er die Marathonschwimmerin Peggy Büchse im Kajak. Zum Selbstversuch auf dem Severn kam es glücklicherweise nicht.

Kameramann Florian Melzer, der den Bore für mareTV filmte, bekam die Macht des Severn am eigenen Leib zu spüren. Mit einem beherzten Sprung floh er vor der unerwartet hohen Welle. Bilanz: Kamera gerettet, Knöchel verknackst.

Mehr Informationen
Vita Olaf Kanter, mare-Redakteur für Wirtschaft und Wissenschaft, ist Liebhaber außergewöhnlicher Sportarten. Für mare No. 19 stieg er in Eislöcher der winterlichen Ostsee, für mare No. 21 begleitete er die Marathonschwimmerin Peggy Büchse im Kajak. Zum Selbstversuch auf dem Severn kam es glücklicherweise nicht.

Kameramann Florian Melzer, der den Bore für mareTV filmte, bekam die Macht des Severn am eigenen Leib zu spüren. Mit einem beherzten Sprung floh er vor der unerwartet hohen Welle. Bilanz: Kamera gerettet, Knöchel verknackst.
Person Von Olaf Kanter
Vita Olaf Kanter, mare-Redakteur für Wirtschaft und Wissenschaft, ist Liebhaber außergewöhnlicher Sportarten. Für mare No. 19 stieg er in Eislöcher der winterlichen Ostsee, für mare No. 21 begleitete er die Marathonschwimmerin Peggy Büchse im Kajak. Zum Selbstversuch auf dem Severn kam es glücklicherweise nicht.

Kameramann Florian Melzer, der den Bore für mareTV filmte, bekam die Macht des Severn am eigenen Leib zu spüren. Mit einem beherzten Sprung floh er vor der unerwartet hohen Welle. Bilanz: Kamera gerettet, Knöchel verknackst.
Person Von Olaf Kanter