SOS im Nordatlantik

Der Frachter „München“ gerät 1978 im Sturm des Jahrhunderts in Seenot. Die Retter kommen zu spät

Als der Sturm zum ersten Mal auf den Wetterkarten britischer Meteorologen auftaucht, taufen sie ihn das „Monstrum des Monats“. Eine Untertreibung, die bald korrigiert wird. Die Wetterstation Bracknell erklärt den Orkan nachträglich zum „Sturm des Jahrhunderts“.

Nicht allein wegen der Windstärke. Elf bis zwölf Beaufort sind auf dem Nordatlantik im Winter nichts Ungewöhnliches. Aber dieser Sturm fegt jetzt schon seit Tagen aus West über die See und treibt Wellen vor sich her, die im Schnitt 15 Meter hoch sind. Einzelne Wellenberge werden doppelt so groß.

Außerdem macht sich dieser Orkan besonders breit, von Labrador bis in die Biskaya. Wer jetzt auf dem Weg nach Amerika ist, muss da durch. Eine Ausweichroute gibt es nicht. Auch auf der „München“ richtet sich die Mannschaft auf eine ungemütliche Reise ein.

Ihr Schiff, 1972 auf der Cockerill-Werft im belgischen Hoboken gebaut, ist ein Schwerlaster der Meere: 261,40 Meter lang, 32,20 Meter breit, mit einer Tragfähigkeit von 44600 Tonnen. Der Frachter ist das erste deutsche Schiff eines neuen Typs. Er schleppt Eisen und Stahl, auch Zellulose, Getreide oder Traktoren. Allerdings nicht in Laderäumen wie herkömmliche Massengutfrachter, sondern in Leichtern, großen, schwimmfähigen Boxen.

Vorteil des neuen Transportsystems: Die „München“ braucht keinen Platz am Kai. Der bordeigene Portalkran hievt die Leichter, die 388 Tonnen tragen können, direkt aus dem Wasser und setzt sie auf festen Stellplätzen im Laderaum oder an Deck ab. Und am Bestimmungshafen fällt der Umschlag weg: Schlepper bringen die Leichter über Flüsse und Kanäle ins Binnenland weiter.

Als die „München“ zu ihrer 62. USA-Reise aufbricht, hat sie 83 der schweren Boxen an Bord: 8341 Tonnen Blech, 4203 Tonnen Stahlplatten, 7844 Tonnen Eisenträger, 955 Tonnen Röhren, 379 Tonnen Drahtrollen und 3836 Tonnen Stückgut.

Kapitän Johann Dänekamp ist in Bremerhaven als Ablösung für seinen Kollegen Hillard Smid an Bord gekommen. Der 48-Jährige hat die „München“ schon elf Mal über den Atlantik und zurück gebracht. Zu seiner Crew gehören 24 Männer und zwei Frauen. Außerdem hat der Zweite Ingenieur Dieter Mewes seine Ehefrau Ursel mit auf die Reise genommen.

Vom Ausgang des Ärmelkanals nimmt Dänekamp Kurs auf Savannah im US-Bundesstaat Georgia. 253 Grad liegen an, die „München“ dampft mit reduzierter Geschwindigkeit gegen die wachsenden Wellenberge an. Gelegentlich taucht der Bug so tief in ein Wellental ein, dass die darauf folgende See glatt über das Vorschiff rollt und gegen die Aufbauten kracht.

Für die Männer auf der Brücke kommen diese Schläge ohne Vorwarnung aus dem Nichts. Windstärke elf bis zwölf bedeutet Blindflug. White-out. Draußen vor den Scheiben gibt es keinen Atlantik mehr, keinen Horizont, keinen Himmel. Nur noch das Weiß der Gischt. Und dann plötzlich der Wellenberg.

Auf einer Orkanfahrt im Januar 1974 ist der „München“ eine solche „grüne See“ bis aufs Peildeck gestiegen, und das liegt 18 Meter über der Wasserlinie. Dass die Brücke bei extremem Wellengang solche Schläge einstecken muss, liegt an der Konstruktion des Frachters: Um an Deck freie Fahrt für den Portalkran zu haben, rückten die Schiffbauer das Brückenhaus weit nach vorn.

Am 12. Dezember kurz nach Mitternacht meldet sich Funker Jörg Ernst über Kurzwelle bei seinem Kollegen von der „Caribe“, einem Passagierschiff, das in der Karibik kreuzt. Ernst berichtet, dass Seeschlag einige Bullaugen zertrümmert hat. Keine besonderen Vorkommnisse sonst.

Drei Stunden später. Petrakos Stilianos, Funkoffizier auf dem griechischen Frachter „Marion“, ist seekrank. Um sich abzulenken, überprüft er Einstellungen an seinem Funkgerät. Er hört, was sonst kein Mensch hört in dieser Nacht: erst das Autoalarmzeichen, das auf der internationalen Seenotfrequenz von 500 Kilohertz einen Notruf ankündigt, dann im Morsecode, ganz schwach, die Meldung: „SOS – SOS – SOS, DE DEAT DEAT DEAT, Pos 46 15 N, 27 30 W, FORWARD ...“

Mehr bekommt Stilianos nicht mit. Fünf Minuten später hört er das Signal ein zweites Mal. Wieder unvollständig. Stilianos versucht, Kontakt zu dem Havaristen aufzunehmen, aber der antwortet nicht. Der Funker der „Marion“ leitet den Notruf als Relay-Meldung weiter. Mehr kann er nicht tun.

Um 3.40 Uhr Mittlerer Greenwich-Zeit (GMT) empfängt die Küstenfunkstation Bordeaux/Arcachon die Nachricht des Griechen. 20 Minuten später klingelt das Telefon bei der Reederei Hapag-Lloyd in Hamburg: DEAT ist das Rufzeichen der „München“.

Zur gleichen Zeit beginnt die britische Küstenwachstation Land’s End mit der Organisation der Rettungsaktion. Die Position der „München“ liegt 400 Seemeilen nördlich der Azoren. Die Briten schicken Nimrod-Suchflugzeuge los und fordern bei ihren Kollegen in New York eine Übersicht des Transatlantikverkehrs an. Wo steht welches Schiff? Wer kann der „München“ schnell helfen?


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mare No. 29

No. 29Dezember 2001 / Januar 2002

Von Olaf Kanter

Olaf Kanter, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Wissenschaft.

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