Seitenaus Atlantik

Die Kicker Brasiliens erlernen ihre Kunst am Strand. Eine Reportage

Paulos Flanke kommt direkt vom Atlantik. Er hat den Ball elegant angeschnitten, und wie an einer Banane gezogen kurvt die Kugel vor das Tor. Bis vor einer Zehntelsekunde habe ich mich pudelwohl gefühlt. Ich bin einer von 16 Fußballern auf einem goldgelben Sandplatz, der sich unter den nackten Füßen wie Samt anfühlt. Neben mir der Ozean, welcher mit von Schaum gekrönten Wellen ruhig ausläuft und sein ewiges Rauschelied singt. Eine mittelschwere Brise macht die Hitze erträglich, das Licht der untergehenden Sonne verzaubert das Strandleben in ein Meer aus warmen, leuchtend bunten Farben. Aber Paulos Flanke fliegt ausgerechnet in meine Richtung.

Ich bin mitten in einer „Strand-Pelada“. Kurz übersetzt: die täglich wiederkehrende Opfergabe an die Fußballgötter der Meere mittels einer spontanen Zusammenkunft barfüßiger Männer, selten Frauen, an irgendeinem brasilianischen Strand, wobei mindestens einer der Peladeiros einen ballähnlichen Gegenstand oder gar einen Fußball beisteuert, dem zweibeinig gehuldigt wird, indem Mann ihn streichelt, liebkost, dribbelt und manchmal zwischen zwei Pfosten platziert, die wahlweise aus Kokosnüssen, abgebrochenen Besenstielen oder aufgetürmten Sandhäufchen gebildet werden. Noch etwas gehört zu einer Pelada. Sie wird parallel zum Ozean zelebriert, und in der dem Wasser abgewandten Richtung ist das Feld schier unbegrenzt. Gegenüberliegend gilt: Seitenaus Atlantik.

Brasilianer spielen immer und überall Fußball. Das Land verfügt über 8000 Kilometer Küste, potentiell 8000 Kilometer „Seitenaus Atlantik“. Ständig fliegt irgendwo gerade ein Ball durch die Meeresluft. In Porto Alegre, Rio, Salvador, Fortaleza und in ungezählten kleinen Orten zwischen den Metropolen. Natürlich auch hier in Recife, einer Stadt im Nordosten von Brasilien. Bis zur Landung von Mauritz von Nassau war Recife ein winziges Fischerdorf. Heute ist es eine Millionenstadt mit großem Hafen. Und mit 15 Kilometern Strand. Für Recife heißt das: Hinter allen Dünen ist Pelada.

Das Wort bedeute „barfuß“, schwört Pedro, mein Mitspieler. „Quatsch“, meint Roberto aus dem anderen Team. „Pelada heißt spontan Fußball spielen.“ Richtig ist, daß sie unorganisiert ohne Schuhe abläuft, weil nicht jeder Brasilianer sich welche leisten kann. Die wahre Bedeutung des Wortes Pelada ist ohnehin nebensächlich, wichtig ist allein, daß du bei einer mittanzt. Zwei, drei Handzeichen, einige nickende Köpfe, schon bin ich mitten in meiner ersten Pelada an irgendeinem Strandabschnitt von Recife.

Paulo hat bananengeflankt. Das ist ungefähr eine Zehntelsekunde her, und der Ball fliegt immer offensichtlicher genau auf den einzigen Hellhäutigen unter uns 16 Männern zu. Noch bleibt mir reichlich Zeit, Paulos Flanke segelt eine volle Sekunde stark gedrallt durch die Luft, zehn Zehntelsekunden. Zehn qualvolle Abschnitte in meinem kurzen Leben als weißer Peladeiro. In Abschnitt zwei fällt mir ein, dass sie mich zum Fußballgott krönen werden, wenn ich die Sache brasilianisch löse. Und Paulo ist dann ein Heiliger, ein „São Paulo“ sozusagen.

15 Augenpaare starren auf mich, den Deutschen, und erwarten, dass ich den Ball reinschieße. Das ist nicht das Problem: Anstoppen, abziehen, Tor! Aber sie verlangen eine landesübliche Lösung für das Anspiel. Entweder per Fallrückzieher oder den Ball mit der Brust annehmen, so dass er auf dem nackten Oberkörper klebt. Dann das Leder auf einen Fuß tropfen lassen. Dort sollte der Ball mindestens zweimal auf- und abtanzen. Danach per Außenrist fein geschliffen in die Ecke schlenzen oder volley unhaltbar reinknallen.

Brasilianische Peladeiros kriegen so etwas regelmäßig hin, zumindest den Versuch. Ihre meist erstaunlich dünnen Beine, die in oft erstaunlich kleine Füße übergehen, entfalten noch erstaunlichere Qualitäten beim Umgang mit einem Ball. Sie streicheln die Kugel mit der Fußsohle, ziehen sie über den Strand, schaufeln sie an Gegenspielern vorbei und küssen sie mit ihren nackten Zehen bei jeder Berührung. Aber sie sind eigensinnig. Der gradlinige Weg zum Tor ist nicht ihr Ding, weil sie nichts mehr hassen, als den Ball einfach nur stumpf zwischen den Pfosten zu platzieren. Einmal hat mich ein Gegenspieler nach allen Regeln der Pelada-Kunst ausgetrickst. Er ist vorbei, aber dann kurvt er noch einmal Richtung Atlantik, dreht sich und steht schon wieder vor mir, den Ball immer noch am Fuß. Ich verstehe erst, als er mir das Leder ein zweites Mal durch die Beine schlenzt. Pelada ist Show, Zirkus, Spaß, Spannung und Kunst.

In Abschnitt drei meiner Pelada mit der Bananenflanke steigt in mir Bewunderung auf für diesen Teufelskerl Paulo. Er hat das Leder tatsächlich direkt vom Atlantik gespielt, nachdem er dort ein paar Meter über den Flügel gestürmt ist. Dabei ist es besonders schwierig, an der Wasserkante zu kicken, weil die Flut Welle für Welle ins Spiel einfließt. Es gilt die Regel: der Atlantik ist das Seitenaus. Außer, wenn die Regel nicht gilt. Der Ball landet vor deinen Füßen, und plötzlich schwappt das Meer herüber. Wo das über den Sand rollende runde Etwas eben noch allein der Erdanziehung gehorcht hat, wird es plötzlich auf Wogen getragen, die es hin- und herschaukeln. Versuche niemals, einen Fußball, der auf den Schaumkronen schwimmt, flach zu spielen. Du schießt dagegen, aber er rollt nicht nach vorn. Du bist in der Vorwärtsbewegung und bleibst mit dem Fuß am Leder hängen. Der Rest deines Körpers gerät langsam in die Horizontale, der geplante trockene Schuss wird zur nassen Bauchlandung. Pelada-Veteranen kicken in solchen Momenten unter den Ball, um ihn aus dem Meer auf den Strand zu befördern.

Was einen europäischen noch von einem brasilianischen Strandfußballer unterscheidet? Der Weiße legt seine Klamotten neben den Pfosten und vergisst die Beweglichkeit des Atlantiks. Den Rest besorgt die Flut, die plötzlich eine Woge ziemlich weit auf den Strand schickt. Bis ins Spielfeld hinein und über deine Shorts, die du anschließend heimlich auswringen musst, damit deine Mitspieler nicht lachen. Das mit der nassen Hose passiert dir beim ersten Mal, weil du das Meer ignorierst. Beim zweiten Mal, weil du in einer Pelada bist und alles andere vergisst.

Nach dem Spiel gehen die Peladeiros über das Seitenaus in den Atlantik, rein in eine Badewanne. Gleichzeitig ist das Meer der Pelada-Platzwart, nach dem du eine Stadionuhr stellen könntest. Sobald bei Ebbe das Wasser zurückfließt, tun sich unzählige Fußballplätze auf, die meisten glatt wie ein Kinderpo. Wenn zusätzlich die Sonne die Feuchtigkeit aus dem Sand saugt, ist das Feld bestellt. Eine Pelada am Meer ist immer etwas abschüssig, weil sich der Fußballplatz leicht zum Ozean neigt. Noch etwas lernst du ganz schnell: Entweder du spielst mit oder gegen den Wind, es sei denn, er bläst von rechts oder links oder diagonal oder wechselt ständig seine Richtung. Und immer riecht es nach Muscheln und Seetang.

Paulos Flanke ist seit vier Zehntelsekunden unterwegs. Warum kommt jetzt kein Motorrad vorbei, wie sonst dauernd? Oder ein Kokosnusshändler, der in aller Ruhe seinen einachsigen Wagen vor dem Tor herschiebt? Ich hätte dann den Ball gefangen, kurz „disculpa“, „Entschuldigung“, gesagt, und die Sache mit der Bananenflanke wäre gegessen gewesen. Es passiert hier dauernd, dass jemand durchs Spielfeld latscht, fährt oder keuchend strampelt, wenn er sein kleines Fischerboot auf runden Holzpfählen zum Atlantik rollt. Du hast alles richtig gemacht, ein paar Gegenspieler ausgetrickst und überlaufen. Du rennst auf das leere Tor zu und dann das: Die Pfosten sind weg, einfach verschwunden. Keine ausgelutschten Kokosnüsse, keine Holzstangen, keine Sandhaufen weit und breit, zwischen denen du die Kugel lässig oder auch triumphierend reinschieben könntest.

Stattdessen rennst du mit dem Ball direkt auf einen Wagen zu von der Größe eines Sofas. „Gelado“, „Eis“, steht drauf, und „Cocos“. Wenn du nicht sofort die Hacken in den Sand bohrst, wird dir die Karre die Breitseite geben. Sekunden später ist der Koloss nach links gerückt und vor dir stehen wieder drei Gegenspieler, hinter denen du die Pfosten siehst. Wahlweise fährt manchmal ein Moped übers Spielfeld oder Badegäste laufen durch den Strafraum. Aber der Platz, auf dem gerade gebolzt wird, ist ohnehin ständig in Bewegung. Je nach Ebbe und Flut dehnt er sich auf der einen Seite aus oder schrumpft. Auf der anderen ist er ausgefranst, weil er in Dünen, sich sonnende Menschen oder in die Handkarren von fliegenden Händlern übergeht.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 8. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 8

No. 8Juni / Juli 1998

Von Werner Paczian und Christopher Pillitz

Werner Paczian, freier Journalist aus Münster, begann als Lokalsport-Reporter. „Mindestens einmal pro Woche“ spielt er noch Fußball.

Christopher Pillitz wuchs in Argentinien auf und lebt in London. Er machte von sich reden mit einer Fotostudie über brasilianischen Körperkult, an der er fünf Jahre lang arbeitete.

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Vita Werner Paczian, freier Journalist aus Münster, begann als Lokalsport-Reporter. „Mindestens einmal pro Woche“ spielt er noch Fußball.

Christopher Pillitz wuchs in Argentinien auf und lebt in London. Er machte von sich reden mit einer Fotostudie über brasilianischen Körperkult, an der er fünf Jahre lang arbeitete.
Person Von Werner Paczian und Christopher Pillitz
Vita Werner Paczian, freier Journalist aus Münster, begann als Lokalsport-Reporter. „Mindestens einmal pro Woche“ spielt er noch Fußball.

Christopher Pillitz wuchs in Argentinien auf und lebt in London. Er machte von sich reden mit einer Fotostudie über brasilianischen Körperkult, an der er fünf Jahre lang arbeitete.
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