Sehnot

Meer frisst Schiff. Für seine Werkreihe „Ship Cancellation“ fotografierte der Künstler Sven Johne die See. Die Bilder zeigen Orte, an dem sich furchtbare Tragödien abspielten

Unglaublich ruhig sehen die Fotografien aus. Nichts als leere Meeresoberfläche, die irgendwo in der Ferne in Himmel übergeht. Der Himmel ist nicht besonders blau, und das Meer ist nicht besonders türkis. Dennoch sind die Bilder auf ihre ereignislose Art schön. Meditativ ist das erste Wort, das einem dazu einfällt. Bis man das Kleingedruckte liest.

Knapp über dem Horizont findet sich der Name eines Schiffes und eine Koordinatenangabe. Aber erst der Text, der in der rechten unteren Bildecke steht, schafft Klarheit.

„Der 120-Meter-Frachter verließ Darwin, Australien, am 12. Juni 1918 mit Ziel Southampton. Die Empire war eines der ersten Frachtschiffe, die eigene Kräne an Bord hatten, um in Häfen schneller be- und entladen werden zu können. Am zweiten Seetag geriet das Schiff in einen Sturm, in dessen Folge einer der ungesicherten Kräne die Aufbauten und das Achterdeck zertrümmerte. Die Empire sank innerhalb von zehn Minuten.“

Dort, wo auf dem Foto das Meerwasser öde vor sich hinschwappt, hat es also einmal ein Schiff verschlungen. Sofort entspinnt sich im Betrachter eine komplexe Beziehung zwischen Bild und Text: Sie widersprechen und ergänzen sich gleichzeitig. Auf den lakonischen Untergangsbericht folgt der Bericht eines Überlebenden, der den Film, der vor dem inneren Auge des Betrachters schon längst läuft, noch dramatischer macht. „Langsam, aber sicher kam der Wahnsinn als Vorzeichen“, erzählt ein Matrose. „Der stetige Wellengang tat das Nötige, wenn der Irrsinn den Mann auf den Rücken gelegt hatte. (…) Wie es heller wurde, war ich nur noch mit dem Dänen allein auf weiter See. Dann kam ja die Helena.“ Und plötzlich wird aus der Geschichte vom Scheitern eine Geschichte vom Überleben.

„Menschen, die den Kopf hinhalten“, faszinieren den Leipziger Künstler Sven Johne. So wie die Überlebenden, die in seiner Installation „Ship Cancellation“ davon erzählen, wie ihre Schiffe am eigenen technischen Fortschritt zugrunde gingen. Oder wie die unbekannten Matrosen, die in seiner Arbeit „Wachwechsel“ in düsterem Schwarzweiß zu sehen sind: Sie wurden nachts von Piraten über Bord geworfen.

Mindestens so fasziniert ist Johne, der 1976 in Bergen auf Rügen geboren wurde, vom Leben auf den Frachtschiffen. „Die Initialzündung war eine Zeitungsmeldung über die Besatzung des Frachters ‚Mayflower‘, der wochenlang vor der peruanischen Küste festlag. Seine Reederei war bankrott gegangen und hatte ihn aufgegeben. Die Mannschaft, zehn Vietnamesen und einige Ukrainer, saß an Bord fest. Niemand kümmerte sich um sie.“

Geschichten wie diese bilden den Ausgangspunkt von Johnes Arbeit. „Mir ist aber wichtig, dass ich Erfahrungen selbst mache. Man sollte schon wissen, wovon man spricht.“

Deshalb schiffte Johne sich im Mai 2003 auf einem deutschen Containerfrachter ein und fuhr von Southampton nach New York. Auf der Reise entstand auch seine Videoarbeit „The Flying Dutchman“, in der nichts als menschenleere Frachträume und Korridore bei Nacht zu sehen sind. „Das Erstaunliche ist ja, dass diese Frachter nur eine sehr kleine Besatzung haben. Selten sind mehr als 20 Leute an Bord.“

Johne mag ernst wirken, aber er hat ein ausgeprägtes Gespür fürs Absurde. „Wenn man einen Seemann fragt, weshalb er seinen Beruf gewählt hat, sagen die meisten: ‚Weil ich die Welt sehen wollte und von Technik fasziniert war.‘ Dabei hat keines von beidem mit der Realität zu tun“, erzählt er. „Die Technik arbeitet fast von allein. Und die Welt sieht man auch nicht. In den meisten Häfen gehen die Matrosen nicht von Bord. Eigentlich ist der Seemann für mich der Inbegriff des modernen Menschen: bis zur Bindungs-losigkeit mobil und nur für die Arbeit da.“

Als ihn an Bord die Langeweile packte, begann Johne, Fotografien vom leeren Atlantik zu machen, auch von der Untergangsstelle der „Titanic“. „Das war natürlich sinnlos. Das Foto unterscheidet sich durch nichts von all den anderen. Letztlich habe ich es für ,Ship Cancellation‘ benutzt.“


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mare No. 59

No. 59Dezember 2006 / Januar 2007

Von Anneke Bokern

Die Installation „Ship Cancellation“, bestehend aus fünf Arbeiten, ist derzeit in einer gemeinsam mit mare konzipierten Ausstellung der Kunsthalle Kiel zu sehen. Im Rahmen des Projekts „SEE History 2006. Schätze bilden“ zur Förderung des Sammlungsaufbaus hat mare Johnes Werk erworben; nach der einjährigen Präsentation geht es in den Besitz des Museums über. Eine vollständige Dokumentation von „Ship Cancellation“ einschließlich der Untergangsberichte finden Sie unter www.mare.de/svenjohne.

Die Kunsthistorikerin Anneke Bokern, Jahrgang 1971, lebt als freie Architektur- und Kunstjournalistin in Amsterdam.

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Vita Die Installation „Ship Cancellation“, bestehend aus fünf Arbeiten, ist derzeit in einer gemeinsam mit mare konzipierten Ausstellung der Kunsthalle Kiel zu sehen. Im Rahmen des Projekts „SEE History 2006. Schätze bilden“ zur Förderung des Sammlungsaufbaus hat mare Johnes Werk erworben; nach der einjährigen Präsentation geht es in den Besitz des Museums über. Eine vollständige Dokumentation von „Ship Cancellation“ einschließlich der Untergangsberichte finden Sie unter www.mare.de/svenjohne.

Die Kunsthistorikerin Anneke Bokern, Jahrgang 1971, lebt als freie Architektur- und Kunstjournalistin in Amsterdam.
Person Von Anneke Bokern
Vita Die Installation „Ship Cancellation“, bestehend aus fünf Arbeiten, ist derzeit in einer gemeinsam mit mare konzipierten Ausstellung der Kunsthalle Kiel zu sehen. Im Rahmen des Projekts „SEE History 2006. Schätze bilden“ zur Förderung des Sammlungsaufbaus hat mare Johnes Werk erworben; nach der einjährigen Präsentation geht es in den Besitz des Museums über. Eine vollständige Dokumentation von „Ship Cancellation“ einschließlich der Untergangsberichte finden Sie unter www.mare.de/svenjohne.

Die Kunsthistorikerin Anneke Bokern, Jahrgang 1971, lebt als freie Architektur- und Kunstjournalistin in Amsterdam.
Person Von Anneke Bokern