Schwimmer mit offenen Augen

Der Surrealist Yves Tanguy, Kapitänssohn aus Paris, liebte das wilde Leben der Stadt und die Strände der Bretagne

Surrealist war Yves Tanguy schon als Bub. Gesetze des Zufalls bestimmten sein Tun, Rimbauds konvulsive Schönheit liebte er über alles, und er handelte paranoisch-kritisch, lange bevor Dalí den suggestiven Begriff erfand.

Für eine Karriere an André Bretons Stammtisch war der berufslose Junge schon deshalb prädestiniert, weil er alle Diskussionen mit heiterem Schweigen, doch äußerst aufmerksam verfolgte. Streitsucht und Eloquenz lagen ihm fern. Seine Markenzeichen – Matrosenleibchen, Haare zu Berge, Glas in der Hand – wusste er mit sarkastischem Lächeln und PR-Charme ins Bild zu setzen. Es wirkte immer weltläufig, auch wenn die Seine den Ozean und ein kommunes Balkongeländer die Brüstung eines Luxusdampfers ersetzen mussten. Yves Tanguy grinste, und alle mochten ihn, von seinem hellblauen Blick bezirzt – die Modistin Jeannette Ducrocq, ein einfaches Gemüt, für Tisch und Bett zuständig, die großherzige Kunstsammlerin und -händlerin Peggy Guggenheim, der Yves, obwohl nicht geschieden, angeblich einen Heiratsantrag machte, und Kay Sage alias Marquise di Faustino, malende Tochter eines amerikanischen Senators, die Tanguy schließlich 1941 zum Staunen von vielen ehelichte. Mit 25 galt er als Niete, 1927, zwei Jahre später, redeten alle Kunstkomplizen von „Café Dôme“ bis „Café Coupole“ über ihn – eine schillernde Existenz und rasende Vita. Tanguy lebte laut, äußerte sich aber nur widerwillig zur eigenen Person. Zusammenhänge zwischen Biografie und Werk lehnte er strikt ab, und wilde Gerüchte, die um ihn zirkulierten, dementierte er nie – sie waren meistens wahr.

Das Kind wurde kurz nach dem Start in das neue Jahrhundert geboren, am 5. Januar 1900, im Zeichen des Steinbocks. Es geschah im ehrwürdigen Gebäude des Marineministeriums am Place Vendôme, wo der Vater, ein ehemaliger Kapitän, eine Stelle als Aufseher innehatte. Le lieu oblige: Der Kleine sollte am illustren Lycée Montaigne die beste Ausbildung bekommen – und langweilte sich deshalb sehr. Während der belesene Vater Félix, ein Bretone aus Brest und Seemann in dritter Generation, gegen jegliche Fadheit an Bord oder an Land Chansons und Gedichte rückwärts rezitierte, entdeckte der jüngste Sohn ein wirksameres Rezept, indem er Alkohol mit Äther kombinierte. Als ihn der Rektor mit einem im Kniestrumpf versteckten Flachmann erwischte, wurde Yves gnadenlos relegiert. Den Ärger nahm er stoisch zur Kenntnis. Für einen begeisterten Leser und Bewunderer von Arthur Rimbaud war eine solche Begebenheit adäquat: So weit gingen Tanguys Identifikationswünsche, dass seine Porträtfotos aus dieser Zeit dem Autor des „Trunkenen Schiffes“ verblüffend gleichen.

Der Bengel mit Engelsgesicht, fast übermäßig frei und ohne Schulabschluss, versuchte sich auf Vaters Spuren bei der Marine, reiste von Portugal über Afrika nach Brasilien und Argentinien und kehrte nach zwei Jahren als Offiziersanwärter mit dem Dampfer „Bougainville“ zurück. Wie ist es ihm auf hoher See gegangen? War es eine abenteuerliche Eskapade? Eine „saison en enfer“ oder eine Qual? Tanguy schwieg sich aus, simulierte Epilepsieanfälle und landete als Halbverrückter in der Kaserne von Lunéville, wo er in dem noch nicht dichtenden Jacques Prévert einen Anarcho-Verbündeten entdeckte. Die gleichaltrigen Enfants terribles spornten sich gegenseitig zu Heldentaten an. Der Soldat Yves verspeiste seine Socken zum Frühstück, tagsüber schluckte er lebendige Spinnen. Schließlich meldete er sich freiwillig zum afrikanischen Jägercorps, machte harmlose Aquarelle in Südtunesien und beendete die Militärlaufbahn in Foum-Tatahouine.

Ab 1922 vagabundieren Yves und Jacques wieder in Paris. Der Dritte und Reichste im Bund, Marcel Duhamel, ein Träumer und Hotelbesitzer, übernimmt die Rolle des großzügigen, geduldigen Mäzens in der fatal unstabilen Wohngemeinschaft in der Rue du Château 54 – eine für die Geschichte des Surrealismus beinahe geheiligte Adresse. Yves Tanguy, mehr Clochard als Kunstadept, trinkt weiter, schläft ab und zu in fremden Kellern, auf dem Fenstersims oder in Bäumen und leistet überhaupt Unerhörtes. Gegen vier Uhr morgens, nach seinem zwölften Bier, zieht er durch die Straßen und attackiert im Tête-à-tête-Kampf die Briefkästen des Quartiers. Auch nach durchzechten Nächten malt er am Tag wie besessen und konzentriert, um sich und der Umgebung zu beweisen, dass seine Hand nie zittert.

So lebt er für die Kunst, nicht aber von ihr. Der Staat unterstützt den „arbeitslosen Intellektuellen“ mit 18 Franc monatlich, sonst schlägt sich der Blauäugige mit Gelegenheitsjobs durch, arbeitet als Straßenbahnchauffeur, Zeitungsverkäufer, Packer in den Hallen. Nur so nebenbei betätigt sich Yves als begabter Schreiner und Designer – sämtliche Inneneinrichtung an der Rue du Château, vom fischlosen Aquarium, ohne Wasser, aber mit Sand, über ausgefallen schlichte Möbelstücke bis zu Tapetencollagen, stammt von ihm oder basiert auf seinen Einfällen. Sehr oft speit Yves seine Ideen in die Leere, vergeudet sie im scheinbaren Durcheinander. Die Kunst ist riskant, Unabhängigkeit teuer, bekannt oder reich sein sind zweierlei Sachen.

Als Tanguy endlich André Breton besuchen darf, ist er mit Koks derart vollgepumpt, dass er sich an nichts mehr erinnert. Es macht nichts, der Guru mag ihn trotzdem. Der Eleve unterschreibt alle surrealistischen Kampfschriften und Deklarationen, antwortet einsilbig in den Diskussionen über die Sexualität und scheint der Doktrin gehorsam zu folgen, auch wenn er – mit dem gleichen Kompass – einen anderen, persönlichen Kurs einschlägt. Bei jeder Gelegenheit erzählt der Neubekehrte seine perfekt redigierte Initiationsgeschichte: Ein Bild von Giorgio de Chirico, „zufällig“ in einem Schaufenster gesehen und, nochmals ein Zufall, aus der Sammlung Breton stammend, warf den ziellosen Straßenbummler derart aus den Schienen, dass er sich ab sofort für Malerei entschieden hat, und er begann, dank der Kettenreaktion von Zufällen, mit geschenkten Farben und Pinseln auf geschenkten Leinwänden zu malen, malen und malen.


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mare No. 29

No. 29Dezember 2001 / Januar 2002

Von Ludmila Vachtova

Ludmila Vachtova, Jahrgang 1933, promovierte in Prag in Kunstgeschichte. 1968 erhielt sie den Preis der tschechischen Kunstkritik. Seit 1972 lebt sie als freie Autorin in Zürich.

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Vita Ludmila Vachtova, Jahrgang 1933, promovierte in Prag in Kunstgeschichte. 1968 erhielt sie den Preis der tschechischen Kunstkritik. Seit 1972 lebt sie als freie Autorin in Zürich.
Person Von Ludmila Vachtova
Vita Ludmila Vachtova, Jahrgang 1933, promovierte in Prag in Kunstgeschichte. 1968 erhielt sie den Preis der tschechischen Kunstkritik. Seit 1972 lebt sie als freie Autorin in Zürich.
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