Schwangere Auster

Ein Meerestier als Vorbild für die Architektur

Die Münchener Gesellschaft war empört, die Gemüter erhitzt. Ein kleiner Bau in der Von-der-Tann-Straße sorgte ab 1898 für diese Unruhe, welche sich erst mit seiner Zerstörung in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts legte.

Im Auftrag zweier Fotografinnen entwarf August Endell das Fotoatelier Elvira. Dessen überschäumende Meeresornamentik bildete auf der Straßenfassade einen Höhepunkt des Münchener Jugendstils. Ein großes cyclamrotes, von mehreren kleineren türkisgrünen Elementen sekundiertes Ornament jagt über einen meergrünen Fassadengrund. Wild schäumende Wellenkämme, deren Abschlüsse an vielteilige Muschelbänke erinnern, allerlei abstrahiertes Getier und Pflanzen aus den Tiefen des Meeres sind da zu sehen. Faszinierende Phantasmagorie den einen, geschmacklose Zumutung den andern – irritierend allemal.

Obwohl August Endell sich hier durchaus traditioneller gestalterischer Mittel bediente, hatte die asymmetrisch angelegte, vorgänger- und nachfolgerlose Fassade des Ateliers nichts mit der gewohnten bürgerlichen Repräsentationsarchitektur und mit gängigen Sehgewohnheiten zu tun. Bewegt und farbenreich entsprach sie vielmehr dem exzentrischen Lebensstil der Auftraggeberinnen, der beiden engagierten Frauenrechtlerinnen Anita Augsburg und Sophia Goudstikker. In ihrem Haus empfingen die zwei Frauen sowohl Mitglieder des Königshauses als auch Teile der Münchener Bohème. Nicht nur die beiden Bauherrinnen, auch August Endell selbst gehörte dem Münchener Frauenverein an, kannte und unterstützte dessen Forderungen.

Selbstbewusste Weiblichkeit wurde mit dieser Fassade manifestiert, Vitalität, Erotik und Unabhängigkeit zur Schau gestellt. Es überrascht daher nicht weiter, dass die nationalsozialistische Ära den Untergang des Fotoateliers Elvira brachte. Bereits 1937 wurde das Fassadenornament abgeschlagen, 1944 fiel auch der Rest des ungenehm individualistischen Baus dem rigiden Zeitgeist zum Opfer – letztlich wurde ihm seine geographische Nähe zum „Haus der Deutschen Kunst“ zum Verhängnis.

Erstreckte sich der Einfluss der Muschel beim Atelier Elvira lediglich auf das Ornament, so weitete er sich bei der 1957 von Hugh A. Stubbins entworfenen Kongresshalle in Berlin auf die strukturellen Prinzipien des Gebäudes aus. Ein Symbol der Freundschaft zwischen Amerika und Berlin sollte der Bau sein. Und wurde im West-Berliner Tiergarten so positioniert, dass er auch vom Sowjetischen Sektor her direkt ersichtlich war.

Das Gebäude ähnelt zwei abstrahierten Muschelhälften, die sich an der tiefsten Stelle der konkaven Konstruktion zu einem Ganzen vereinen. Seit alters gelten die perfekt zusammenpassenden Muschelhälften als Sinnbild der Zusammengehörigkeit zweier Menschen, eine gelungene Metapher für diesen Bau.


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mare No. 2

No. 2Juni / Juli 1997

Von Silvia Huber

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