Schule der Hoffnung

Im polynesischen Inselstaat Kiribati bilden deutsche Reedereien angehende Seeleute aus

Am Morgen der Rückreise klopft jemand an die Tür, kurz vor Abfahrt zur Flugpiste vier Inseln weiter. Die Sonne ist gerade übers Meer gestiegen, die Temperatur gut und gern schon auf 30 Grad, und wie jeden Tag um diese Stunde krähen sich sämtliche Hähne Betios die Lunge aus dem Leib. Auf dem Flur steht Mariano und hält mir mit seinem verlorenen Lächeln wie um Entschuldigung bittend ein akkurat gefaltetes Stoffpäckchen entgegen: „Dein Tebeh. Den Mauree Dir versprochen hat. Gab kein Garn in den Läden, drum hat es bisschen länger gedauert.“

Ich falte das leuchtend sonnenblumengelbe Baumwolltuch auseinander. Fast zwei Meter lang, einen Meter breit, das klassische Hüfttuch des gut gekleideten Gilbert-Insulaners. In eine Ecke hat Marianos Frau aus vielfarbiger Seide meinen Namen eingestickt, von Blüten umrankt. – „Ist zur Erinnerung. Du wirst ihn nicht tragen können bei Euch im kalten Norden.“ – „Er ist schön. Sag Mauree meinen Dank!“ – „Mach ich. Tia bo, Chris. Bis dann. Irgendwann.“ – „Tia bo, Mariano. Du rufst an, wenn Du ...“ – „... wenn ich in Hamburg bin, ruf ich an.“

Mariano vom Eiland Betio im Korallenatoll Tarawa, weit weg von allem, kennt sich aus in der Welt, auch im kalten Norden. Dort, gut 14000 Luftlinienkilometer von seiner heißen ozeanblauen Heimat entfernt, haben wir uns kennen gelernt – an einem frösteliggrauen skandinavischen Nachwintertag, acht Monate zuvor, auf seiner Wohn- und Arbeitsstätte, dem Containerschiff „Polar Colombia“, gerade aus Costa Rica eingelaufen, an Göteborgs Bananenkai festgemacht, aufs Löschen seiner Obstfracht wartend.

Am Brückenhaus taucht im Niedergang zum Maschinenraum von unten eine dunkle Gestalt auf: erst ein tiefschwarzer, krauser Haarschopf, darüber knallgelbe Ohrenschützer gestülpt, ein gutgeschnittenes Gesicht in sanftem Bronzebraun, schließlich der ganze mit einem dunkelblauen Overall bekleidete Mann, schlank, kaum mittelgroß, die ölverschmierten Hände an einem Putzlumpen sauber reibend.

„Hey, ich bin Mariano. Motorman. Kalt hier oben. Aber prima Luft.“ – Er atmet tief durch, schuddert und schiebt den Reißverschluss bis zum Kragen. Wir rauchen, plaudern und beobachten die Deckhands, die, dickverpackt in wattierte Jacken und wollene Skihauben, das Deck zum Entladen klarmachen. Auch sie sind klein und dunkel, auch sie sind Kiribatesen, acht insgesamt. Außerdem zehn Polen als Offiziere und Techniker, dazu zwei Deutsche: Kapitän und Chefingenieur. Und ein einzelner schweigsamer Filipino. Das ist die Crew. Immer hin und her fährt sie ihren großen Pott über den Atlantik.

Ein Zweckverband, zusammengewürfelt und kaserniert auf Monate; eine Männergemeinschaft, zusammengehalten und diszipliniert durch die Aufgabe, dieses hochkomplizierte Gerät, ihr Schiff, termingerecht und sicher von da nach dort zu bringen. Für die kiribatesischen Mannschaftsdienstgrade heißt das: Rostklopfen, Anstreichen, Brückenwache, Container-laschen, Deckschrubben, Leinen zum Anlegen klarmachen, wieder Rostklopfen, Anstreichen, Brückenwache, Maschinenwartung, Reparaturen, wieder Deckschrubben, Rettungsübung, Messeservice ... in monatelang monoton wiederkehrender Routine. Landgang ist selten. Die Liegezeiten sind so kurz bemessen wie möglich, die Containerhäfen oft meilenweit vom nächsten Ort entfernt.

Nachts dann im Skagerrak. Es wird rauh, Wind orgelt, Nebel kommt auf. Im abgedunkelten Brückenhaus glimmen geisterhaft Radarschirm und Monitore. Stille und Konzentration, niemand scheint im Mindesten besorgt. Ich schlucke mein Unbehagen – wenn einer der Blechtürme vor uns auf Deck sich plötzlich losreißt?! – und hangle mich drei Stockwerke tiefer zur Mannschaftsmesse.

Laden und Bugsieren wie in Göteborg bedeutet Schwerstarbeit. Fix und fertig hängen sie in den Sesseln. Aber sie sind gut drauf: Am nächsten Abend werden sie in Hamburg sein. Das heißt Landgang für die einen, Urlaub für die anderen. Nach neun Monaten Maloche für drei Monate auf die Heimatinsel: Frau, Kinder und Großfamilie wieder sehen, sich feiern lassen, Geschenke verteilen, gemeinsam fischen, warmen Sand unter nackten Fußsohlen spüren, Nichtstun ... Als Seemann ist man ein großer Mann in Kiribati, ein Großverdiener auch. Im Fernseher läuft ein Video aus Tarawa gegen (oder für?) das Heimweh: Hohe Palmen schütteln ihre Kronen im Passat, über einem Riff brechen weiß die Wellen.

Gemächlich rollt das Schiff, die Wandverkleidung knirscht im Rhythmus. Uakeia und Toma stimmen ihre Gitarren. Täglich miteinander zu singen sei wichtig, es stärke den Zusammenhalt in der Fremde. Bootsmann Wainang, dick und gemütlich, gescheit und nachdenklich, der Anführer der Truppe, erklärt: „Es ist nicht leicht in der Fremde, auf den großen Schiffen, die Disziplin, das Arbeiten nach Plan und Uhr. Auf den Inseln sind wir das nicht gewohnt. Gut, wir hatten die Ausbildung in der Marineschule. Dort haben sie es uns beigebracht. Wir wussten, was uns erwartet. Die meisten Jungs auf den Inseln wollen zur Marineschule und Seeleute werden. Aber leicht ist es nicht. Zu Hause leben wir mit der Großfamilie in der Hütte, sehr nah, sehr eng. Manchmal zu eng, finde ich inzwischen. Aber hier fehlt es uns. Keine alten Leute, keine Kinder. Naja, und keine Mädchen ... Darum singen wir. Dann sind wir auf den Inseln. Was soll man mit seiner Freizeit auch machen? Schlafen, essen, Videos gucken. Sieh mich an, fett bin ich geworden! Naja, hier haben sie einen polnischen Koch, da werde ich vielleicht wieder abnehmen. Kennst Du polnisches Essen? Saure Gurken stellt er uns auf den Tisch! Saure Gurken!! Naja ...“

Er schüttelt sich theatralisch. Die anderen fallen vor Lachen fast aus den Sesseln. Dann singen sie, selbstvergessen und hingebungsvoll. In ihrer schnell hüpfenden, sanft rollenden Sprache. Weiche, melancholische Melodien, düstere, geheimnisvolle Texte: „Gesichter aus der Ferne / Wie Haifische kommen sie über mich / Ich habe den Berg der Versuchung gesehn / Das macht mir Angst und Schmerz.“


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mare No. 15

No. 15August / September 1999

Von Hans-Christof Wächter und Knut Gielen

Hans-Christof Wächter, Jahrgang 1940, lebt in Berlin. In diesem Heft schreibt er auch über die Jagd nach dem Blauen Band (Seite 86).

Knut Gielen, Jahrgang 1964, ist Fotograf und Mitglied der Agentur Plus 49/Visum. In mare No. 9 erschien seine Reportage über die Helmtaucher im Hamburger Hafen

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Vita Hans-Christof Wächter, Jahrgang 1940, lebt in Berlin. In diesem Heft schreibt er auch über die Jagd nach dem Blauen Band (Seite 86).

Knut Gielen, Jahrgang 1964, ist Fotograf und Mitglied der Agentur Plus 49/Visum. In mare No. 9 erschien seine Reportage über die Helmtaucher im Hamburger Hafen
Person Von Hans-Christof Wächter und Knut Gielen
Vita Hans-Christof Wächter, Jahrgang 1940, lebt in Berlin. In diesem Heft schreibt er auch über die Jagd nach dem Blauen Band (Seite 86).

Knut Gielen, Jahrgang 1964, ist Fotograf und Mitglied der Agentur Plus 49/Visum. In mare No. 9 erschien seine Reportage über die Helmtaucher im Hamburger Hafen
Person Von Hans-Christof Wächter und Knut Gielen