Schneller & Sohn

James Gordon Bennett Sr. beschleunigte den US-Zeitungsjournalismus, sein Sohn und Nachfolger fügte dem die Sensationsgier hinzu – und eine gehörige Portion Exzentrik

Nur wenige Menschen schreiben Geschichte, indem sie Geschichten schreiben. James Gordon Bennett Sr. war einer von ihnen. 1795 im County Banffshire, Schottland, in eine reiche katholische Familie geboren, machte er sich im Alter von 24 Jahren auf den Weg Richtung Westen, überquerte im Segelboot eines Freundes den Atlantik, erreichte erst Halifax in Nova Scotia, dann Boston und übersiedelte 1823 schließlich nach New York. Ausgestattet mit hoher Arbeitsmoral und grüblerischem Gemüt arbeitete Bennett als Lehrer, Korrektor, Übersetzer und freier Publizist.

Im Mai 1835 gründet er mit einem Startkapital von 500 Dollar eine neue Zeitung in New York, nennt sie „New York Herald“ und setzt den aufsehenerregenden Mord an der Prostituierten Helen Jewett auf den Titel. Fortan bekommen die Amerikaner auf bisher unbekannte Art Sensationen und Skandale vorgesetzt. Bennetts Reporter finden alles, und sie finden alles schneller als alle anderen. Kein Aufwand ist Bennett zu groß, keine Niederung zu tief.

Rasch gilt der „Herald“ als schärfstes Blatt Amerikas, handelt mit Sex und Verbrechen, agitiert gegen den Präsidenten, nutzt Karikaturen und Illustrationen und führt ein Abonnementsystem ein. Er ist das erste Organ, das Sport zum Hauptbestandteil des Journalismus macht, das den Hauptstadtreporter in den Kongress nach Washington und Auslandskorrespondenten nach Europa entsendet. Bennett macht den Journalismus so scham- wie rücksichtslos, zudringlich und unentbehrlich. Beschleunigung ist Geschäftsidee, Betriebsgeheimnis und Erfolgsrezept des „Herald“ in einem. Aber lässt sich Tempo steigern? Und lässt sich durch Temposteigerung auch die Auflage steigern?

Zwei Jahre nach Gründung des „Herald“ hat der „Mann, der die Nachrichten machte“, wie man ihn früh nennt, eine bestechende Idee. Bennett ruft eine Hafenflotte ins Leben und betreibt „news gathering“ per Boot. Sogenannte Nachrichtenschiffe, eingesetzt von weitsichtigen Verlegern wie des „New York Courier and Enquirer“ oder des „Journal of Commerce“, gibt es, unter zunehmender Konkurrenz und im Wetteifer der jungen Verlagshäuser um die besten Nachrichten, bereits seit einigen Jahren. Jedes Haus unterhält ein oder mehrere Boote im New Yorker Hafen, die einfahrende Schiffe aus Europa abpassen und Neuigkeiten abfischen. Um die Reibungslosigkeit der Übermittlung sicherzustellen, arrangieren manche Herausgeber Deals mit Agenten in London oder Liverpool: Separat verpackte Bündel europäischer Zeitungen sollen einem ausgewählten Offizier ausgehändigt und später bei der Einfahrt in New York an die Crew der im Hafen wartenden Nachrichtenschiffe übergeben werden, auf diesem Weg lässt sich die Verletzung der Postgesetze umgehen. Die Schoner der Verlage fahren so nah wie möglich an die einlaufenden Schiffe heran, jemand ruft den Namen seines Verlags hinauf, die Crew lässt ein Beiboot zu Wasser, dann wird das straff eingewickelte Paket Zeitungen hinabgeworfen und in die Redaktion gebracht.

Bennett aber erkennt, dass die berechenbare, von Wind und Wetter weitgehend unabhängige Überfahrt der Dampfschiffe das tagelange Warten der Schoner nicht mehr nötig macht. Um als Erster an die Neuigkeiten zu kommen, muss man schneller sein – bevor die gebildeten New Yorker Leser die Zeitungen aus dem damals führenden Kontinent der Alten Welt in den Lesesälen oder Börsen der Neuen Welt selbst lesen können.

Interessant sind für die amerikani- schen Zeitungsredaktionen Informationen über anhaltende Parlamentsdebatten in Europa, über ausbrechende oder anhängige Revolutionen, über die Entwicklung auf den Märkten des Alten Kontinents, über Politiker, Königshäuser oder die politische Situation in Asien und Afrika. Mit Beginn der transatlantischen Dampfschifffahrt wird auch die Nachrichtenbeschaffung im New Yorker Hafen schneller und aggressiver, die Dampfschifffahrt fordert und befördert eine neue Art des Journalismus. Die Nachrichtenschiffe werden der letzte Höhepunkt des hektischen und kostspieligen physischen Newstransports sein, ehe die technische Revolution der Telegrafie die Nachrichtenübermittlung radikal verändern wird.

Die Flotte des „Herald“ besteht aus den drei äußerst wendigen Segelbooten „Teaser“, „Tom Boxer“ und „Celeste“, die weitaus wendiger als die umständlichen und langsamen Schoner sind. Schon während der Einfahrt in die New York Bay passen sie die gigantischen Dampfschiffe an der Quarantänestation am Montauk Point am Saum des Atlantiks ab.

Strategisch clever wirbt Bennett Steuermänner von der am Südende der Bay gelegenen Halbinsel Sandy Hook an, während die Nachrichtenboten der Konkurrenz am äußersten Ende von Long Island auf Nachrichten warten müssen, um dann mit der Eisenbahn den langen Weg zurück ins Zentrum von New York zu fahren. Das kostet Zeit, und da Zeit kostbar ist und Exklusivität zur meistbegehrten Währung des Zeitungsgeschäfts wird, kann dem „Herald“ bald niemand mehr das Wasser reichen. Die knapp zehn Kilometer lange, sich in die Bucht von New Jersey hineinbiegende Halbinsel wird fortan zum Zentrum einer unter Hochdruck arbeitenden Nachrichtenindustrie. Bennetts Leute warten nicht auf die News, sie gehen zu den News. Und seine Korrespondenten sind mittlerweile überall.

Bennett senior kann als Urheber des medienolympischen Dreiklangs „schneller, sensationeller, atemloser“ betrachtet werden, als Nestor der „breaking news“. Seine Hingabe an die Geschwindigkeit und ihre jeweils neueste Technik überträgt sich, fast naturgemäß, auf seinen einzigen Sohn, James Gordon Bennett Jr. Schon als Teenager hat der Junior ein Büro in der Redaktion des „Herald“ und steht auf der Gehaltsliste des Seniors. Da der Apfel selten weit vom Stamm fällt, ähnelt Junior in puncto Egomanie und Unverwundbarkeitsglaube seinem Vater offenbar sehr.


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mare No. 125

No. 125Dezember 2017 / Januar 2018

Von Christian Schüle

Christian Schüle, Jahrgang 1970, lebt als freier literarischer Autor, Essayist und Publizist in Hamburg und ist Lehrbeauftragter für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Die tragische Geschichte der von Bennett junior ins Leben gerufenen und gescheiterten Polarexpedition, die von den fatalen Folgen falscher Hypothesen und dem Wahnwitz menschlicher Ruhmsucht erzählt, ist im mareverlag unter dem Titel Die Polarfahrt erschienen.

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Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, lebt als freier literarischer Autor, Essayist und Publizist in Hamburg und ist Lehrbeauftragter für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Die tragische Geschichte der von Bennett junior ins Leben gerufenen und gescheiterten Polarexpedition, die von den fatalen Folgen falscher Hypothesen und dem Wahnwitz menschlicher Ruhmsucht erzählt, ist im mareverlag unter dem Titel Die Polarfahrt erschienen.
Person Von Christian Schüle
Vita Christian Schüle, Jahrgang 1970, lebt als freier literarischer Autor, Essayist und Publizist in Hamburg und ist Lehrbeauftragter für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Die tragische Geschichte der von Bennett junior ins Leben gerufenen und gescheiterten Polarexpedition, die von den fatalen Folgen falscher Hypothesen und dem Wahnwitz menschlicher Ruhmsucht erzählt, ist im mareverlag unter dem Titel Die Polarfahrt erschienen.
Person Von Christian Schüle