Schauinsblau

Eine Schmugglerbar an der Côte d’Azur erwacht aus ihrem Schönheitsschlaf

Wo die Alpen sich ins Mittelmeer stürzen, ist ein dramatischer Ort. Hoch ragt der Baoussé Roussé noch einmal auf, der Rote Fels, dann buckelt er, wie aus Widerwillen gegen das Anbranden der Wellen, schließlich fällt er schroff hinab ins Wasser. Hier liegt Menton; die Italiener auf der Ostseite des agonischen Kolosses, über dessen Bauch die Grenze zwischen Frankreich und Italien geht, sagen lieber Mentone, es klingt ja auch hübscher.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte eine Hand voll englischer Snobs in Menton, der stereotyp gewordenen Dolce Vita ihrer Winterfrische in Cannes überdrüssig, das einfache ländliche Leben. Sie ließen sich nieder in kleinen Villen im Florentiner Stil zwischen den Mas der Zitronenbauern. Für Rückfälle war Monte Carlo ja nah, nur über die Hügel des Cap Martin am westlichen Ortsrand, und Cannes, wo alles seinen Anfang nahm, mit der neuen Eisenbahn in zwei Stunden zu erreichen. Da wurde Menton zur Flüsteradresse, zuerst bei Malern und Dichtern, dann bei reichen Nichtsnutzen, die verzückt nach London schrieben, wenn ein Hirte ihnen gezeigt hatte, wie man aus Eukalyptus Flöten schnitzt.

Aber der gute Ruf überwog, und so kamen weitere nach: die Bourgeoisie, die kluge Geschäfte gewohnt war, die Schönheit einer Lage eher schätzte als den Klang einer Adresse und deren Bildungsideal sie selbstverständlich die Sprache der Einheimischen beherrschen ließ. Und die Intellektuellen, die den Aufruhr des nahenden 20. Jahrhunderts von hier aus gelassener betrachteten.

Es kamen George Sand, Flaubert, Liszt und viele mehr, sie alle bevorzugten den weiten Sonnenfang Garavan an der Flanke des Baoussé. Ein schöner Spaziergang führte von ihren Villen durch Zitronen und uralte Oliven sanft hinauf zum Zoll. Dort hatten sie den herrlichsten Ausblick über den Golf des Friedens, von San Remo bis Nizza.

Mit dem Boom der Belle Époque war es hier oben bei den Zöllnern betriebsam geworden. Alles musste durch den schmalen Tunnel Pont Saint-Louis auf halber Höhe des Felsens. Also zimmerte Monsieur Moraldo nahe dem Schlagbaum eine Taverne auf dem kleinen Grund, den er von seinem dankbaren früheren Dienstherrn, einem wohlhabenden Briten, für wenig Geld bekam; für die Grenzgänger und Touristen, die bei der Rast die Aussicht priesen, und für die Schmuggler, die hier ihre Konterbande verhandelten und Verabredungen für die Touren über den Pass weiter oben trafen. Aber auch die Spaziergänger aus Menton, Katherine Mansfield und Jean Cocteau, die Zofen aus der nahen Villa des belgischen Königs saßen gern hier bei einem Kräuterbitter, ganz still von der Kulisse, erst recht, seit Moraldo anstelle der Taverne eine hübsche, komfortable Rotunde aus Glas auf den kleinen Felsvorsprung gesetzt hatte, im chicen Art déco, es war ja Anfang der Zwanziger. Das „Mirazur“ verdiente seinen Namen.

Danach kamen sie in Wellen, aufgestiegene Kleinbürger, Blumenkinder, Mafia, russische Oligarchen, die Wellen gebremst von Krieg oder Rezession. Sie kamen jetzt seltener in die Bar, nachdem ein Steinwurf darunter der Autoverkehr einen zweiten Tunnel nötig gemacht hatte. So war das „Mirazur“ in Schönheitsschlaf gefallen; Madame und Mademoiselle Moraldo hatten es über die besten Jahre gebracht, es war zu ihrem Spekulationsobjekt geworden.

Den Handel um die Immobilie gewann vor zwei Jahren der Méditerranée-Liebhaber Michael Likierman. Er überredete den jungen Wilden Rick Mather, der in Londons Docklands Denkmäler der Postmoderne gesetzt hatte, zu der eleganten, gefühlvollen Revision des gläsernen Tambours, sanierte den üppigen Garten zu seinen Füßen, rettete den ältesten Avocadobaum an der Côte und eröffnete ein luxuriöses Restaurant.

Dessen künstlerische Leitung übernahm Jacques Chibois, der sich in Grasse in die Sterne gekocht hatte und hier sein „Bistro contemporain“ passend gerahmt sah. Als brauchte es bei diesem Ausblick ein gutes Essen, kocht seine Garde hier eine raffinierte regionale Fischküche, die Gourmets den Weg von Marseille oder Genua nach hier machen lässt. Maître Vincent Rouard empfiehlt das wechselnde Menü. Man sollte Folge leisten, es übertrifft die Fantasie der gewagtesten Esser, denn alle Gänge stehen unter einem Zutatenmotto. Vom Amusegueule über den Fisch bis zum Dessert: alles – sagen wir – mit Tomaten und Kräutern. Hatten Sie je ein Halbgefrorenes aus Tomatenconfit und herbes du Mentonnais? Wenn ja, dann nehmen Sie doch einen Stock tiefer an der Bar nur einen Cocktail „Mirazur“. Sie finden dann schon die richtige Belichtung für Ihr Panoramafoto.


Brasse auf Zitronenfenchel und gekümmeltem Zwiebeljus

Zutaten für vier Personen

600 g Filet von Brasse, Viertelliter Olivenöl, Kresse, 500 g Fenchel, 3 Zitronen, Thymian, Knoblauch, 400 g Zucchini, Petersilie, 500 g Zwiebeln, 100 g Karotten, 50 g Butter, Kümmel, Weißwein

Zubereitung

Fenchel mit Thymian und Knoblauch in Öl garen, etwas Schale und Saft von zwei Zitronen hinzufügen. Zwiebeln in Öl glasieren, Wein hinzugeben, mit Wasser bedecken, kochen lassen, bis die Zwiebeln neutral schmecken, abseihen. In den Zwiebelsud Karotten geben, im Mixer pürieren. Kümmel zerstoßen und mit Butter cremig schlagen, mit dem Sud zur Sauce montieren, mit Zitronensaft und -schale abschmecken. Zucchini schneiden, würzen, mit Öl und Petersilie vermengen. Filets zart braten.


Mirazur
Frontière de Pont Saint-Louis,
06500 Menton, Frankreich.
Täglich geöffnet. Reservierung empfohlen.
Tel. +33 492 41 86 86; info@mirazur.fr

mare No. 35

No. 35Dezember 2002 / Januar 2003

Eine Kombüse von Karl J. Spurzem und Maurice Weiss

Karl Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln.

Maurice Weiss, Jahrgang 1964, lebt in Berlin. Er ist Fotograf der Agentur Ostkreuz.

Mehr Informationen
Vita Karl Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln.

Maurice Weiss, Jahrgang 1964, lebt in Berlin. Er ist Fotograf der Agentur Ostkreuz.
Person Eine Kombüse von Karl J. Spurzem und Maurice Weiss
Vita Karl Spurzem, geboren 1959 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte, Romanistik und Städtebau. Nach Stationen bei der Berliner Tageszeitung Die Welt, einer Hamburger Musikzeitschrift und als freier Journalist wurde er im Sommer 2001 Chef vom Dienst bei mare, im Frühjahr 2008 stellvertretender Chefredakteur und Textchef. Seither lernt der Segelflieger das Segeln.

Maurice Weiss, Jahrgang 1964, lebt in Berlin. Er ist Fotograf der Agentur Ostkreuz.
Person Eine Kombüse von Karl J. Spurzem und Maurice Weiss