Schattenspiel

Von Afghanistan schlagen sich die Flüchtlinge bis ins griechische Patras durch. Als blinde Passagiere wollen sie mit der Fähre nach Italien weiter. So beginnt das Versteckspiel mit Zoll und Polizei

Wenn sich die Nacht über die griechische Hafenstadt Patras senkt, beginnt das Spiel der Schatten. Sie lösen sich aus schwarzen Hauseingängen, huschen im Dämmerlicht über die breite Uferstraße, hinüber zum Maschendrahtzaun und schlüpfen durch Löcher auf die Pier. Dort warten sie: gut 100 junge Männer, die Augen auf die hohen Fähren gerichtet, die von Patras nach Italien ziehen. Wenn der Moment günstig ist, wenn wieder ein Laster einfährt und den Inspektoren an der Fähre den Blick versperrt, rennen sie los, allein oder zu zweit oder zu dritt.

Wochen-, manchmal monatelang haben sie die Weiten des Irans durchquert, die türkischen Berge bezwungen, in kleinen Schmugglerbooten die Ägäis bewältigt. Nun wollen die afghanischen Flüchtlinge die letzte Wegstrecke nehmen, versteckt in oder unter einem Lastwagen, als blinde Passagiere auf einer Autofähre.

Heute hat es nicht geklappt, die Inspektoren hatten ein Auge auf die Schatten. Aber morgen vielleicht. Mustafa Tavakuli kehrt zum Lager zurück. Seinen Unterschlupf aus Pappe und Plastikplanen teilt er sich mit elf anderen Männern. Seit zwei Wochen ist er nun schon hier. Hier, das ist eine Kolonie aus Buden und Verschlägen auf einem Grundstück an der Promenade. Unterkunft für 650 Flüchtlinge, die meisten sind Afghanen, nur vereinzelt gibt es Pakistani. Die Hälfte der Lagerbewohner ist unter 18 Jahre alt.

Das Rote Kreuz schaut täglich nach den Kranken, und Popen verteilen Brot, Kartoffeln und Spaghetti. Wer geschickt ist, zapft mit provisorisch isolierten Kabeln das städtische Stromnetz an und hat Licht am Abend. „Waschen kann man sich im Meer, wenn es nicht zu kalt ist. Zwischen den Büschen am Strand gibt es auch ein Abwasserrohr, aus dem erstaunlich klares Süßwasser sprudelt“, erzählt Mustafa Tavakuli. Vier Toiletten auf dem gegenüberliegenden Parkplatz müssen für die 650 Flüchtlinge reichen.

Keine Behörde fühlt sich für die Illegalen zuständig. Die Polizei kommt ab und zu mit dem Streifenwagen vorbei und jagt sie mit Blaulicht vom Hafenzaun weg. Fünf Minuten später sind sie wieder da. Manche Flüchtlinge werden mit Fingerabdruck registriert, bekommen ein Papier in die Hand gedrückt mit der Aufforderung, Griechenland innerhalb eines Monats zu verlassen. Dann werden sie freigelassen. So war es auch bei Mustafa der Fall. Vielleicht, weil man weiß, er ist wie alle hier nur auf der Durchreise.

„Ich will nicht in Griechenland Asyl beantragen und hierbleiben müssen“, sagt Mustafa Tavakuli und zeigt übers Meer nach Westen. „Meine Zukunft liegt dort. Ich will nach Deutschland und studieren.“ Mustafa Tavakuli ist 14 Jahre alt.
Der Junge hat es alleine von Afghanistan bis nach Griechenland geschafft. Einen Monat lang war er vom Dorf Tamaki bei Kabul nach Patras, im Westen des griechischen Peloponnes, unterwegs gewesen. Verwandte hatten ihm 1900 Dollar für die Flucht geliehen, davon waren 1800 an die Schmuggler gegangen. Lange werden die verbliebenen 100 Dollar nicht reichen. Er wird sein Glück beim Schattenspiel jeden Abend versuchen müssen.

Schattentheater haben sie auf dem Peloponnes schon vor hundert Jahren gespielt, und Patras rühmt sich, dessen Heimat zu sein. Karagiozi nennt man das Puppenspiel, und so heißt auch der skurrile Hauptdarsteller, der bauernschlau gegen die Obrigkeit kämpft und sich stets neue Tricks überlegt. Beim Schattenspiel der Flüchtlinge hat bislang keiner die Feinheiten besser beherrscht als Norozi Bager, 26. Zwei Jahre lang versuchte der Afghane, als blinder Passagier nach Italien zu kommen. Mehr als 30 Mal konnte er unbemerkt auf die Fähre gelangen, doch stets wurde er drüben von der italienischen Polizei geschnappt und wieder zurückgeschickt.

Mindestens fünfmal ist er unter den Dachspoiler über der Fahrerkabine geschlüpft. Schnell muss man sein und einen Tag erwischen, an dem die Kontrolleure nicht so aufmerksam sind, zum Beispiel, wenn viel los ist. Gelenkig und schlank muss man auch sein; Norozi Bager wiegt bei 165 Zentimetern 47 Kilogramm. Nicht nur aufs Dach, auch in die schmalen Öffnungen im Fahrgestell der Lastwagen hat er sich gezwängt und dann einen guten Tag regungslos ausgeharrt, bis die Fähre in Italien ankam. „Das ist hart. Aber du hast keine andere Wahl. Auch auf den Schiffen gibt es noch Kontrollen.“ Die Taschenlampen der italienischen Polizisten haben ihn schließlich immer gefunden.


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mare No. 60

No. 60Februar / März 2007

Von Helge Bendl und Nikos Economopoulos

Helge Bendl, geboren 1978, Reporter der Agentur Zeitenspiegel, begegnete im Flüchtlingslager vielen Kindern, die keine Kindheit hatten. Ein Afghane erzählte ihm, wie er vor den Taliban geflüchtet war. Er hatte seine Kalaschnikow in die eine Hand genommen, seine Schwester an die andere und das Mädchen in ein Versteck in den Bergen geführt. Er selbst ist zwölf.

Nikos Economopoulos, Jahrgang 1953, Mitglied der Agentur Magnum, arbeitet gerne zu Hause, wo er die kulturellen Codes versteht und sich unbefangen seinen Protagonisten nähern kann: in Griechenland.

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Vita Helge Bendl, geboren 1978, Reporter der Agentur Zeitenspiegel, begegnete im Flüchtlingslager vielen Kindern, die keine Kindheit hatten. Ein Afghane erzählte ihm, wie er vor den Taliban geflüchtet war. Er hatte seine Kalaschnikow in die eine Hand genommen, seine Schwester an die andere und das Mädchen in ein Versteck in den Bergen geführt. Er selbst ist zwölf.

Nikos Economopoulos, Jahrgang 1953, Mitglied der Agentur Magnum, arbeitet gerne zu Hause, wo er die kulturellen Codes versteht und sich unbefangen seinen Protagonisten nähern kann: in Griechenland.
Person Von Helge Bendl und Nikos Economopoulos
Vita Helge Bendl, geboren 1978, Reporter der Agentur Zeitenspiegel, begegnete im Flüchtlingslager vielen Kindern, die keine Kindheit hatten. Ein Afghane erzählte ihm, wie er vor den Taliban geflüchtet war. Er hatte seine Kalaschnikow in die eine Hand genommen, seine Schwester an die andere und das Mädchen in ein Versteck in den Bergen geführt. Er selbst ist zwölf.

Nikos Economopoulos, Jahrgang 1953, Mitglied der Agentur Magnum, arbeitet gerne zu Hause, wo er die kulturellen Codes versteht und sich unbefangen seinen Protagonisten nähern kann: in Griechenland.
Person Von Helge Bendl und Nikos Economopoulos