Eine neue Stadt entsteht. Ganz fix, per Knopfdruck. Rosarot leuchten die ersten Wolkenkratzer am dunklen Horizont Schanghais auf. Gelb glüht die Reihe davor. Ganze Straßenzüge glimmen blau, und die ganz hohen Türme im Vordergrund strahlen weiß. Fertig ist die Stadt.
Lee Jin Cheng stützt sich mit beiden Ellbogen auf dem Plexiglashimmel über der Modellstadt ab und versucht sich zu orientieren. Er zeigt auf den pinken Obelisken in der Mitte: „Das ist das Jinmao-Gebäude, der dritthöchste Wolkenkratzer der Welt. Den weißen daneben kenne ich noch nicht.“ Eine zierliche Frau im grauen Business-Kostüm, die eben per Lichtschalter die Stadt erschaffen hat, rattert die Zahlen runter: „Das World Financial Center. 94 Stockwerke, 460 Meter hoch. Acht Meter höher als der Petronas Tower in Kuala Lumpur.“ Der neue welthöchste Wolkenkratzer, ein langer schmaler Keil, hat oben eine halbrunde Öffnung. Wie ein Flaschenöffner, seltsam. „Weiß ist im Bau“, erklärt die Expertin ihr Modell. „Blau heißt fast komplett, rosa fertig. Den Gelben fehlt noch der Investor.“ Gelb ist selten.
Eine breite Schneise läuft quer durch die Stadt und verliert sich im fernen Südosten des Modells. „Dort hinten liegt der neue Flughafen“, verkündet die Frau in Grau. „Kapazität der ersten Baustufe: 20 Millionen Passagiere und 750000 Tonnen Fracht im Jahr. Bauzeit: drei Jahre. Baukosten: 13 Milliarden Yuan.“ Etwa drei Milliarden Mark. Später soll der Flughafen größer werden als London Heathrow und Frankfurt zusammen. Größer, höher, besser. Schanghai ist süchtig nach Komparativen, süchtig nach Zahlen, diesem Destillat des Erfolgs. Hochprozentiger Fortschritt, das ist die Droge, auf die hier jeder abfährt.
Auch Lee Jin Cheng. 21 Jahre ist er zur See gefahren, auf Tankern, auf Autofrachtern. Er hat die Entwicklung Schanghais wie im Zeitraffer erlebt. „Jedesmal, wenn ich von einer langen Reise zurückgekommen bin, sah alles wieder ganz anders aus.“ Vor sechs Jahren hat er die Seefahrt an den Nagel gehängt, seit zwei Jahren organisiert der 45-jährige für Hapag-Lloyd den Containerumschlag in Schanghai. Eine Boom-Branche, da wird jeder zum Fortschritts-Junkie. Fast liebevoll legt Lee seinen Arm auf die strahlende Plexiglas-City: „Vor zehn Jahren, da war hier noch gar nichts. Eine Werft, ein paar Schuppen. Und dahinter nichts mehr. Sumpf.“
Bis die Stadtväter beschlossen, auf dem Ostufer – chinesisch „Pudong“ – des Huangpu-Flusses eine komplette neue Stadt zu bauen. Für Börse, Banken und Big Business. Ganz modern, ganz Manhattan. Als Gegenentwurf zur drangvollen Enge in „Puxi“, dem Westufer. Eine saubere Stadt, ohne Kräne und Speicher, ohne Schiffe. „Die großen Pötte haben sowieso zuviel Tiefgang für den Huangpu“, sagt Kapitän Lee. „Hier kommen jetzt schöne Apartments und Yachthäfen hin.“
Draußen vor dem Ausstellungsraum an der Lujiazui Road wird fieberhaft gearbeitet. Pudong putzt sich für die Jubiläumsfeier raus: 50 Jahre Volksrepublik China. Arbeiter spannen ein hundert Meter langes Banner. „Willkommen, neues Jahrhundert!“, verkünden goldene Schriftzeichen auf rotem Grund. In Pudong ist die Zukunft Schanghais zu Hause.
Auf der anderen Seite liegt die Vergangenheit der Stadt – die große Uferpromenade, von den Erbauern „Bund“ genannt, nach dem britisch-indischen Wort für Hafenschutzmauer. Auch die zwei Dutzend prächtigen Paläste mit ihren neoklassizistischen Kuppeln, Säulen und Türmen sehen aus wie importiert – als hätten sie vorher in der Innenstadt von London oder Paris gestanden. Ein Denkmal vergangener Blüte, freut sich der Ästhet und übersieht, dass der Dünger der Gewalt sie genährt hat.
Schanghai ist jung, sein Hafen wurde erst im 18. Jahrhundert zum wichtigen Handelsposten, den jede Woche ein paar hundert Dschunken anliefen. Das Geschäft entwickelte sich gut für die chinesischen Kaufleute – nicht zuletzt, weil das Gesetz sie vor auswärtiger Konkurrenz schützte, bis die See- und Handelsmacht England auf der Suche nach einem Markt für Opium aus ihrer indischen Kolonie in China einfiel. Das Reich der Mitte weigerte sich, die Droge ins Land zu lassen, aber die Briten schickten Kanonenboote. Nach drei Jahren Krieg war der chinesische Widerstand gebrochen. Die Kolonisatoren raubten China den Tiefwasserhafen Hongkong und richteten sich in Schanghai häuslich ein. Außer den Engländern kamen Franzosen, Amerikaner, Deutsche, Japaner, Russen. Sie teilten das beste Land der Stadt am Zusammenfluss von Wusong und Huangpu unter sich auf und begannen zu bauen.
Die Kolonisatoren erwirtschafteten in kürzester Zeit fabelhafte Reichtümer – und sie wollten damit protzen. Den Handelshäusern und Banken war kein Preis zu hoch, wenn sie mit ihrem Domizil den Palast des Nachbarn in den Schatten stellen konnten. So kam Schanghai auf den Geschmack für Superlative. Die reichste Stadt Chinas konnte mit den luxuriösesten Hotels aufwarten, den elegantesten Boulevards. Den sündigsten Clubs, den längsten Nächten, den größten Exzessen.
Damals hat sich Schanghai schmeichelhafte Synonyme verdient: das Paris Chinas, die Königin des Ostens. Überliefert sind allerdings auch drastische Beschimpfungen: Hauptstadt der Gangster, Hure des Orients. Der Name der Stadt ging als Inbegriff für Menschenraub in die Wörterbücher ein: jemanden „schanghaien“ heißt, ihn betrunken machen und auf ein Schiff verschleppen. Schanghai stand für Wohlstand und für Ausbeutung, für Eleganz und Elend zugleich. Wahrzeichen der Stadt waren die Tempel des Luxus am Bund – aber auch die erbärmlichen Hütten der Arbeiterslums. 1921 gründete sich in Schanghai die Kommunistische Partei Chinas, 1949 rief Mao Tsetung hier die Volksrepublik China aus. Die Kolonialisten und ihr Glanz verließen die Stadt. Die Exzesse waren vorbei.
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Olaf Kanter, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik. Zuletzt schrieb er in Heft No. 16 über Seenotrettung per Satellit.
Jan Siefke, geboren 1967, hat als freier Fotograf in Chile und Hongkong gearbeitet und lebt zur Zeit in Schanghai. Hier veröffentlicht er erstmals in mare
Vita | Olaf Kanter, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik. Zuletzt schrieb er in Heft No. 16 über Seenotrettung per Satellit.
Jan Siefke, geboren 1967, hat als freier Fotograf in Chile und Hongkong gearbeitet und lebt zur Zeit in Schanghai. Hier veröffentlicht er erstmals in mare |
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Person | Von Olaf Kanter und Jan Siefke |
Vita | Olaf Kanter, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik. Zuletzt schrieb er in Heft No. 16 über Seenotrettung per Satellit.
Jan Siefke, geboren 1967, hat als freier Fotograf in Chile und Hongkong gearbeitet und lebt zur Zeit in Schanghai. Hier veröffentlicht er erstmals in mare |
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