Eine Minute Stille
Von Gabriel García Márquez
Luis Rengifo fragte mich nach der Uhrzeit. Es war halb zwölf. Seit einer Stunde hatte das Schiff Schlagseite und neigte sich gefährlich nach Steuerbord. Über Lautsprecher wurde der Befehl der vorherigen Nacht wiederholt: „Alle Mann an Backbordseite!“ Ramón Herrera und ich rührten uns nicht, weil wir uns auf dieser Seite befanden.
Ich dachte an den Maat Miguel Ortega, den ich einen Augenblick vorher an Steuerbord gesehen hatte, aber fast im gleichen Moment sah ich ihn vorbeitaumeln. Er stürzte nach Backbord, sterbenskrank vor Übelkeit. In diesem Augenblick holte das Schiff fürchterlich über und war weg. Ich hielt die Luft an. Eine riesige Welle brach sich über uns, und wir wurden so nass, als kämen wir aus dem Meer. Sehr langsam und mühevoll gewann der Zerstörer wieder seine normale Lage. Luis Rengifo, auf Wache, war leichenblass und sagte nervös:
„Verflucht! Dieses Schiff haut ab und will nicht wiederkommen.“
Es war das erste Mal, dass ich Luis Rengifo nervös sah. Ramón Herrera neben mir, nass bis auf die Knochen, verhielt sich nachdenklich und schweigsam. Ein Moment vollkommener Stille trat ein. Dann sagte Ramón Herrera:
„Sowie der Befehl zum Kappen der Halteleinen kommt, damit die Ladung ins Wasser geht, bin ich der Erste, der kappt.“
Es war elf Uhr fünfzig.
Ich dachte auch, dass sie jeden Moment befehlen würden, die Halteleinen der Ladung zu kappen. Man nennt das „Überbordwerfen von Decksladung“. Die Radios, Eisschränke und Heizöfen wären sofort ins Wasser gestürzt, wenn der Befehl gegeben worden wäre. Für diesen Fall, dachte ich, müssten wir runter in das Logis, denn oben auf dem Achterdeck waren wir nur zwischen den Eisschränken und Heizöfen sicher. Ohne sie hätten die Wellen uns mitgerissen.
Das Schiff wehrte sich weiter gegen den Seegang, bekam aber immer mehr Schlagseite. Ramón Herrera rollte eine Persenning auf und bedeckte sich damit. Eine neue See, größer als die vorherige, brach sich wieder über uns, doch waren wir durch die Persenning geschützt. Ich hielt mir mit den Händen den Kopf fest, als die See abfloss, und eine halbe Minute später krächzten die Lautsprecher.
„Sie geben gleich Befehl, die Ladung loszulassen“, dachte ich. Doch der Befehl, mit fester, ruhiger Stimme erteilt, lautete anders: „Jedermann, der sich an Oberdeck befindet, hat eine Schwimmweste anzulegen!“
Ruhig hielt Luis Rengifo in der einen Hand die Kopfhörer und zog sich mit der anderen die Schwimmweste an. Wie nach jeder großen Sturzsee empfand ich zuerst eine große Leere und dann tiefe Stille. Ich sah Luis Rengifo, der sich mit übergezogener Schwimmweste die Kopfhörer wieder aufsetzte. Dann schloss ich die Augen und hörte deutlich das Ticken meiner Uhr.
Eine Minute lang ungefähr hörte ich meine Uhr. Ramón Herrera bewegte sich nicht. Ich schätzte, dass es Viertel vor zwölf sein musste. Zwei Stunden noch bis Cartagena. Eine Sekunde lang schien das Schiff in der Luft zu hängen. Ich hob die Hand, um nach der Uhrzeit zu sehen, aber ich sah in diesem Augenblick weder meinen Arm noch Hand oder Uhr. Ich sah den Brecher nicht. Ich spürte, wie das Schiff völlig verloren ging und die Ladung, an der ich festklammerte, in Bewegung geriet.
Im Bruchteil einer Sekunde stand ich auf den Füßen, das Wasser reichte mir bis zum Hals. Ich sah, wie Luis Rengifo mit weit aufgerissenen Augen, grün und stumm, Halt suchte und die Kopfhörer hochhielt. Dann bedeckte mich das Wasser völlig, und ich fing an, aufwärts zu schwimmen.
Um an die Oberfläche zu kommen, schwamm ich eine, zwei, drei Sekunden aufwärts. Ich schwamm immer weiter nach oben. Mir ging die Luft aus. Ich war am Ersticken. Ich versuchte, mich an der Ladung festzuhalten, aber die Ladung war schon verschwunden. Um mich herum war nichts mehr. Als ich oben war, sah ich um mich herum nichts als Meer. Eine Sekunde später tauchte in etwa hundert Meter Entfernung das Schiff zwischen den Wellen auf, an allen Seiten Wasser speiend wie ein U-Boot. Da erst wurde mir bewusst, dass ich über Bord gegangen war.
Knut Werner Rosen, Jahrgang 1942, war Matrose, studierte bildende Kunst, Psychologie und Germanistik. Er lebt als freier Maler in Berlin. Seine Pastellkreidearbeit mit Gerüstleitern entstand 1999 und trägt als Titel eine Sentenz von Paul Valéry: „Durch die Dichte der Geschichte hindurch hatten wir auf die Schemen ungeheurer Schiffe geblickt, die mit Reichtum und mit Geist beladen waren. Wir konnten sie nicht alle zählen. All diese Schiffe aber – sie hatten nichts mit uns zu tun.“
Gabriel García Márquez, geboren 1927 in Kolumbien, Träger des Literaturnobelpreises, schrieb seinen Bericht eines Schiffbrüchigen nach den Erlebnissen eines Marinesoldaten als journalistische Rekonstruktion im Jahr 1955.
| Vita | Knut Werner Rosen, Jahrgang 1942, war Matrose, studierte bildende Kunst, Psychologie und Germanistik. Er lebt als freier Maler in Berlin. Seine Pastellkreidearbeit mit Gerüstleitern entstand 1999 und trägt als Titel eine Sentenz von Paul Valéry: „Durch die Dichte der Geschichte hindurch hatten wir auf die Schemen ungeheurer Schiffe geblickt, die mit Reichtum und mit Geist beladen waren. Wir konnten sie nicht alle zählen. All diese Schiffe aber – sie hatten nichts mit uns zu tun.“
Gabriel García Márquez, geboren 1927 in Kolumbien, Träger des Literaturnobelpreises, schrieb seinen Bericht eines Schiffbrüchigen nach den Erlebnissen eines Marinesoldaten als journalistische Rekonstruktion im Jahr 1955. |
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| Person | mare-Kulturredaktion |
| Vita | Knut Werner Rosen, Jahrgang 1942, war Matrose, studierte bildende Kunst, Psychologie und Germanistik. Er lebt als freier Maler in Berlin. Seine Pastellkreidearbeit mit Gerüstleitern entstand 1999 und trägt als Titel eine Sentenz von Paul Valéry: „Durch die Dichte der Geschichte hindurch hatten wir auf die Schemen ungeheurer Schiffe geblickt, die mit Reichtum und mit Geist beladen waren. Wir konnten sie nicht alle zählen. All diese Schiffe aber – sie hatten nichts mit uns zu tun.“
Gabriel García Márquez, geboren 1927 in Kolumbien, Träger des Literaturnobelpreises, schrieb seinen Bericht eines Schiffbrüchigen nach den Erlebnissen eines Marinesoldaten als journalistische Rekonstruktion im Jahr 1955. |
| Person | mare-Kulturredaktion |