Reise in ein neues Leben

Wenn die „Anastasis“ einen Hafen in Westafrika anläuft, strömen die Kranken zum Meer. Denn das Hospitalschiff ist die einzige Hoffnung für Menschen, deren Gesichter durch Tumore oder Kriegsverletzungen entstellt sind

Seine Stiefmutter hatte die Nachricht im Radio gehört. Das große weiße Schiff würde wieder kommen, nach Liberia, um den Menschen zu helfen. Vielleicht ja auch ihm. Er müsse es versuchen, sagte sie, und so setzte sich der Schneider Sedeckie Kamara zu einem Freund aufs Motorrad und machte sich auf den Weg über die Grenze. Von seinem Dorf Grabo, Elfenbeinküste, bis nach Harper, Liberia, ist es nicht weit, die Fahrt dauert nur eine Stunde. Sedeckie kam zwei Tage zu früh in der Kleinstadt an, er bat seinen Stiefonkel um Unterkunft und wartete. Auf keinen Fall durfte er die Schiffsärzte verpassen. Er wusste, sie würden nicht lange da sein, nur kurz nach Patienten suchen und dann wieder verschwinden.

Im Krankenhaus von Harper schaute der britische Chirurg Tony Giles in Sedeckies Gesicht, ein kurzer Blick genügte, dann gab er ihm einen orangefarbenen Zettel, eine Art Gutschein für eine Operation, mit Datum versehen und der Aufforderung, sich dann im Hafen der liberianischen Hauptstadt Monrovia einzufinden. Sedeckie war beeindruckt, als er Monate später das Schiff zum ersten Mal sah. Eine andere Zukunft versprechend, lag es am Kai. Er lief über die Landungsbrücke, und in diesem Moment dachte er nicht darüber nach, dass die Menschen an Bord zu einem anderen Gott beteten als er. Der Moslem Sedeckie, gequält von einer Hasenscharte, die er sein halbes Leben lang verborgen hatte, indem er sich die Hand vor den Mund hielt, war bereit. Er würde mehr wagen als das hier, um auszusehen wie alle anderen.

Afrikanische Westküste, Liberia, Hafen von Monrovia. An rostenden Pollern vertäut liegt die „Anastasis“, 159 Meter lang, 11 701 Bruttoregistertonnen. Die Besatzung: rund 320 Menschen aus über 30 Nationen, die sich verpflichtet fühlen, den „Ärmsten der Armen“ zu helfen. Und dabei über Gott sprechen wollen.

Die „Anastasis“ – zu deutsch: Auferstehung – ist das Hospitalschiff der christlichen Hilfsorganisation Mercy Ships. Unter den Helfern sind einige Zahnärzte und Augenärzte, andere unterrichten Frauen in Monrovia in Bienen- und Kaninchenzucht, bauen Schulgebäude und Krankenhäuser, klären über Aids auf oder bilden Einheimische aus, die sich um Gesundheit und Hygiene in ihrem Stadtteil kümmern sollen. Der Schwerpunkt der Arbeit von Mercy Ships aber ist die Hilfe für die Entstellten, für Menschen, deren Gesicht durch Krankheit oder Krieg gezeichnet ist. Die „Anastasis“ hat drei Operationssäle und eine Krankenstation mit 40 Betten. Die beiden Operateure, die derzeit an Bord ihren Dienst tun, sind plastische Chirurgen, spezialisiert auf Hasenscharten, Gaumenspalten und gutartige Tumore – Deformationen, wie sie früher auch auf den Straßen Europas zu sehen waren, als es noch keine staatliche Gesundheitsversorgung gab.

Wenn beispielsweise der Fischer Harris Sornood aus Buchanan, einer liberianischen Stadt, die wie Monrovia an der Atlantikküste liegt, irgendwo in Europa oder den USA geboren worden wäre, hätten ihm Ärzte vor 16 Jahren diesen kleinen, aber stetig wachsenden Zellhaufen an der linken Seite des Unterkiefers einfach weggeschnitten. Doch hier, im vom Bürgerkrieg erschütterten Liberia, ist schon die medizinische Grundversorgung mehr Ausnahme als Regel. So wuchs der Tumor zu einer monströsen Größe heran. Harris konnte, wenn er mit seinem Vater fischen ging, kaum noch den Kopf gerade halten, weil fünf überflüssige Kilogramm sein Haupt seitwärts nach unten zogen. Wie Blumenkohl quoll ihm der Tumor aus dem Mund. „Beim Essen musste ich den Kopf weit nach hinten biegen, um schlucken zu können“, erzählt Harris. Sein Speichel habe nach „verrottetem Hühnchen“ gerochen, und manchmal sei sogar Blut aus seinem Mund gespritzt. Harris’ Gesicht verzieht sich, während er spricht. Er erinnert sich an den Ekel und den Schmerz.

Aus Scham legte sich Harris jeden Morgen ein Handtuch über den Kopf und versteckte den Tumor. Aber die Bewohner von Buchanan mieden ihn trotzdem, als sei sein Schicksal ansteckend. „Wenn ich irgendwo hinkam, gingen alle weg.“ Vergeblich suchte Harris Hilfe in den Krankenhäusern von Buchanan und Monrovia, er ging zu einem Wunderheiler, der ihm eine Paste aus Blättern auf die Riesenbeule schmierte und für hiesige Verhältnisse ein Vermögen verlangte: 10 000 Liberianische Dollar, umgerechnet rund 125 Euro. Der Heiler sagte ihm, der Tumor sei ein Zeichen dafür, dass in Buchanan „viel Böses im dunklen Krieg“ geschehen sei. Warum Harris dazu auserwählt war, die Bürde der gesamten Stadt zu tragen, für die Verbrechen der Warlords und ihrer von Drogen vernebelten Soldaten zu büßen, sagte der Mann mit der Blätterpaste nicht.

Ein Mitarbeiter von Mercy Ships, der einen anderen Patienten gerade zurück nach Buchanan begleitet hatte, hörte von dem entstellten Fischer, fand ihn nach längerer Suche am Strand und nahm ihn am nächsten Tag mit nach Monrovia aufs Schiff. Nach der ersten Operation im vergangenen Jahr fehlte Harris das halbe Gesicht, der Tumor hatte sich tief in seinen Kopf gefressen. Deswegen ist er jetzt noch einmal hier. Bei einer Operation vor zwei Tagen hat der Chefchirurg des Schiffes, Gary Parker, den linken Wangenknochen zurückgesetzt und für mehr Symmetrie gesorgt, und in ein paar Monaten steht der letzte Eingriff an, bei dem die untere Zahnreihe nachgebildet werden soll. Harris wird hinterher nicht so aussehen, als habe es den Tumor nie gegeben. Aber er wird so aussehen, dass niemand in Buchanan mehr vor ihm wegläuft, er vielleicht sogar heiraten kann.

Ein neues Leben. Sie alle auf der Krankenstation hoffen, dass ihr Leiden endlich ein Ende hat. Dicht an dicht liegen sie auf Betten mit grün gestrichenem Metallgestell, hier Harris, der Fischer, drei Betten weiter Sedeckie, der Schneider, und dort drüben der kleine Samson Garnett, erst fünf Jahre alt, den sein Vater gestern hergebracht hat wegen der zwei Tumoren an der Stirn. Luftballons und Stofftiere sollen ihn mit dem ungewohnten Ort versöhnen. Durch die Bullaugen sehen die Patienten nur bedeckten Himmel, keiner von ihnen war jemals weiter weg von zu Hause. Viele ziehen die Decke bis zum Kinn, weil die Klimaanlage ohne Pause kalte Luft in die Räume des Krankenlagers drückt. „Gott liebt Liberia“ verkündet ein von Kindern gemaltes Plakat an der Wand, auf zwei Fernsehern laufen amerikanische Gospelvideos. Still sind die Patienten, selbst die frisch Operierten klagen kaum. Die Krankenschwestern zeigen geduldig, wie man Wunden säubert, finden tröstende Worte. Meist brauchen sie dafür die Hilfe der fünf, sechs Dolmetscherinnen, Frauen aus verschiedenen Kirchengemeinden Monrovias, die jeden Tag die Brücke zwischen erster und dritter Welt schlagen und manchmal selbst liberianisches Englisch in amerikanisches Englisch übersetzen, damit es zu keinen Missverständnissen kommt.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 63. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 63

No. 63August / September 2007

Von Asmus Heß und Jodi Bieber

Autor Asmus Heß, Jahrgang 1968, wagte sich bei seinen Recherchen sogar in den Operationssaal. Das Mittagessen danach ließ er allerdings vorsichtshalber ausfallen.

Die Fotografin Jodi Bieber, 1966 in Johannesburg geboren, lebt noch heute in Südafrika und arbeitet für internationale Magazine und Organisationen wie Amnesty International. Sie gewann mehrfach den World Press Award.

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Vita Autor Asmus Heß, Jahrgang 1968, wagte sich bei seinen Recherchen sogar in den Operationssaal. Das Mittagessen danach ließ er allerdings vorsichtshalber ausfallen.

Die Fotografin Jodi Bieber, 1966 in Johannesburg geboren, lebt noch heute in Südafrika und arbeitet für internationale Magazine und Organisationen wie Amnesty International. Sie gewann mehrfach den World Press Award.
Person Von Asmus Heß und Jodi Bieber
Vita Autor Asmus Heß, Jahrgang 1968, wagte sich bei seinen Recherchen sogar in den Operationssaal. Das Mittagessen danach ließ er allerdings vorsichtshalber ausfallen.

Die Fotografin Jodi Bieber, 1966 in Johannesburg geboren, lebt noch heute in Südafrika und arbeitet für internationale Magazine und Organisationen wie Amnesty International. Sie gewann mehrfach den World Press Award.
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