Mag sein, dass das Mit- telalter finster war, stockdunkel war es nicht. Das lag auch an jenem Tier, dessen leiblicher Reichtum die dunkle Epoche erhellte, wenn nicht überall, so doch zumindest an ihren Küsten.
Die Rede ist vom Wal, genauer, von seinem Tran. Das stinkende Öl der Giganten war der Brennstoff in den Hütten und an den Höfen, es erleuchtete Katen und Kathedralen. Ganze Straßenzüge noch des 19. Jahrhunderts erstrahlten unter der rußenden Flamme des Walöls. Und wenn der Übergang in die lichte Moderne mehr oder minder reibungslos gelang, dann auch deshalb, weil der Wal den Schmierstoff dazu lieferte. Ohne den Tran der Meeresgiganten hätten die Zahnräder der industriellen Revolution, vor allem jene in der Feinmechanik, nie gegriffen.
Seifen, Salben oder Suppen, Farben, Gelatine oder Speisefette, sie alle waren angewiesen auf den Rohstoff aus den schwimmenden Ölquellen, lange bevor Erdöl, künstliche Fette oder chemische Derivate den Tran in seinem Nutzwert ablösten. Auch in jenem, welcher der wichtigste scheint, besieht man seine Effektivität: der Selbstvernichtung. Unverzichtbar war das Walöl zunächst zur Herstellung von Nitroglycerin. „Ohne das Walöl“, schrieb die britische Kriegsführung nach dem Ersten Weltkrieg, „wäre die Regierung nicht in der Lage gewesen, sowohl die Ernährungs- als auch die Munitionsschlacht zu schlagen.“
Nicht des Fleisches wegen starben allein im 20. Jahrhundert rund drei Millionen Wale; Walwurst der Norweger und japanisches Zwergwalsushi sind lediglich lokale Geschmacksverirrungen. Des Tranes wegen stach man in See. Anfangs noch mit vergifteten Lanzen und kleinen Harpunen, wie 1000 Jahre alte Funde belegen.
Aus jener Zeit datieren die Zeugnisse des beginnenden gewerblichen Walfangs. Basken und Skandinavier tragen ihre mittels Walöl gegerbten Leder auf die mitteleuropäischen Märkte, ihre Tranfunzeln brennen mit billigerem Licht als die dazumal bekannten Kerzen aus Rindertalg. Über die Jahrhunderte dehnen die Basken ihre Fanggebiete aus, zum Ende des 16. Jahrhunderts stoßen sie vor dem gerade entdeckten Spitzbergen auf die Holländer und Engländer.
Blubber nennen Letztere den Speck der Wale, sie haben gut hingehört. In den Siedereien entlang der Küste Spitzbergens blubbert von nun an die fette Beute, ein ausgekochter Grönlandwal füllt leicht 30 Fässer. Noch gibt es ihn reichlich, die Packhäuser bersten, Spitzbergen boomt. Neben den Walfängern siedeln sich Trankocher, Küfer, Schmiede, Zimmermänner an. Die Deutschen, unter dänischer Krone oder Hanseaten, treffen Mitte des 17. Jahrhunderts ein. Noch immer gibt es die „Hamburger Bucht“ an der eisigen Insel.
Rasch findet das Hauen und Stechen vor ihren Gewässern ein Ende. Sinkende Bestände zwingen die Schiffe ins Packeis. Jetzt wird auf See geflenst, werden die tonnenschweren Speckstreifen abgezogen – Backbord der Fisch, Haken im Leib, Mast und Muskelkraft „schälen den Wal wie eine Orange“; so jedenfalls sah es Herman Melville.
Harpunierer schneiden Schwarten aus, schaben Fleisch und Sehnen ab, setzen dünne Schnitte. Am Ende sehen sie aus wie ein aufgeschlagenes Buch. Eine nach der anderen fliegt in den Ziegelherd, Kessel darauf, in denen der Speck zu Tran zerfließt. Die abgeschöpften Grieben nähren das Feuer. „Der Wal verzehrt sich selbst“, schrieb Melville.
Kupferkessel nehmen den brodelnden Tran auf, Segeltuchschläuche leiten das gekühlte Öl in Fässer unter Deck. Die Feuer brennen Tag und Nacht, drumherum tanzen verrußte Teufel mit dreizinkigen Speckgabeln. Ein Walfänger jener Tage gleicht einer mobilen Hölle, und manchmal explodiert eine.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts steigen auch die Nordamerikaner groß ein. Mit ihnen beginnt die „Südseefischerei“, die oft jahrelangen Fahrten führen bis in die Antarktis. Und ein neues Tier rückt ins Schussfeld der Harpunen: der Pottwal.
Er ist leichter zu erlegen, aber vor allem enthält er Ambra und Walrat. Das erste ist eine graue ölige Substanz aus dem Gedärm der Riesen, der unverdauliche Rest ihrer Tintenfischmahlzeiten. Gleichwohl ist der wohl riechende Schiet unentbehrlich in der Parfümindustrie. Das andere ist ein perlmuttartiges, halb flüssiges Wachs, bis zu einer Tonne trägt der Pottwal in seinem Kopf. Die Engländer halten es zuerst für die Spermien des Tieres, folgerichtig nennen sie es spermwhale. Das Wachs gibt hervorragende Kerzen, es veredelt Salben, macht die Wäsche glänzend, sein öliger Teil taugt immer noch als Schmiere. Was es dem Wal nutzt, ist umstritten. Vielleicht hilft es beim Tauchen, vielleicht beim „Singen“.
Was es ihm schadet, merkt er schnell. Bereits 5000 nordamerikanische Seemänner machen kurz vor Gründung der USA Jagd auf die Kolosse; jeder Mann erntet zwei Tonnen Öl. Andere Nationen ziehen nach, um 1840 sind rund 900 Fangschiffe auf allen Meeren unterwegs, in guten Jahren erlegen sie etwa 10000 Wale.
Doch es sieht so aus, als sollten sie noch einmal davonkommen: 1859 wird das Petroleum entdeckt – nichts, was es nicht ersetzen kann. Trotz schneller, weil dampfgetriebener Fangboote, trotz der norwegischen Erfindung der Granatharpune, die mittels Sprengsatz aus dem unberechenbaren Kampf Mann gegen Tier ein Gemetzel macht, kommt gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Walfang fast zum Erliegen.
Aber technische Raffinesse und verbesserte Raffination machen Walöl wirtschaftlich wieder interessant. Denn neue Härtungsverfahren ermöglichen den groß angelegten Einsatz pflanzlicher Fette – statt Butter und Schmalz ernährt nun Margarine das Volk. Ihre beste Zutat ist jedoch nicht Kokos- oder Palmfett. Es ist der Tran.
Zudem gilt es, einen anderen Appetit zu stillen: Die Großmächte und ihre Rüstungsindustrien haben sich um den globalen Tisch versammelt, die Neuaufteilung der Welt steht an. Gereicht werden Stahl und Eisenerze, dazu gibt es feinstes Walöl. Sie verdauen es zu Kanonen und Dynamit. Allein Deutschland kauft 1913, vor allem als Grundstoff zur Herstellung von Nitroglycerin, fast die Hälfte der weltweiten Tranbestände, die jetzt wieder ein Vielfaches der mageren Vorjahre betragen.
Nach kurzer Nachkriegsflaute werden allein im Fangjahr 1930/31 wieder rund 30000 Blauwale getötet – mehr, als heute noch existieren. Die Deutschen bekommen wegen Weltwirtschaftskrise und Devisenmangels davon wenig ab.
Die Seifen- und Waschmittelhersteller kriegen dies zu spüren. Im Herbst 1936 läuft die „Jan Wellem“, das erste Walfangschiff der deutschen Henkel-Gruppe, aus. „Persil“, ihr wichtigster Weißmacher, kann auf den trüben Tran, aus dem die reinigenden Salze gewonnen werden, nicht verzichten. Margarineproduzenten folgen, bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs laufen sieben deutsche Fangflotten gen Arktis und Antarktis. Sie töten 15000 Tiere.
Im Krieg dienen die kleinen Boote der Flotten als U-Boot-Jäger, die Mutterschiffe mit ihren Kochereien an Bord eignen sich zur Versorgung der Truppen. Die nicht versenkten Schiffe werden nach 1945 unter den Siegermächten aufgeteilt.
Viel hätten sie sowieso nicht mehr genützt. Walöl hat seine Bedeutung völlig eingebüßt, chemische Synthesen oder pflanzliche Stoffe ersetzen es in allen Bereichen. Eigentlich könnten die Wale wieder dicke da sein.
Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.
Vita | Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen. |
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Person | Von Maik Brandenburg |
Vita | Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen. |
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