Radiergummisalat

Ein Spitzenkoch erzählt, wie er den Weg von den gemeinen Calamaris zu den feinen Sepien fand

Es war ein Katastrophenurlaub. Wir hatten in Cavalaire an der Côte d’Azur ein Häuschen gemietet. Der Bungalow lag nur wenige Meter vom Strand an einem Weg, der sich vom Les-Maures-Gebirge zum Meer hinunterwand. Von dort kam auch die Schlammwoge, als ein Unwetter über uns abkübelte. Der Hohlweg, ähnlich einem Wüsten-Wadi, schwoll zur infernalen Wasserstraße. Mittendrin ging unser Auto auf die Reise und stand am nächsten Morgen auf der Stranddüne, wenige Schritte von den brechenden Wellen entfernt.

Ich hatte nach den Aufräumarbeiten in der Wohnung, nach zwei Tagen Schlickschrubben, an der Strandpromenade im nahen Ort eine Schnorchelausrüstung „made in Taiwan“ erstanden. Damit machte ich, was man üblicherweise damit tut. Das Schnorcheln war herrlich, aber die Unterwasseraussicht war mit den Klischees der Tauchkataloge nicht kompatibel, sondern ähnelte mehr der Arbeitswelt eines Kanalarbeiters. Voll mit bizarrem Krempel, war der Meeresgrund eine einzige Müllkippe mit großem Sortiment, von Autoersatzteilen bis zum Kinderwagen. Eine mannigfaltige Welt, bunter als jedes Korallenriff. Pilzige Schlieren schwebten dazwischen, ein Lebewesen war zuerst nicht auszumachen.

Wenig später aber, gemütlich in der Lauge schnorchelnd, gewahrte ich schluckaufartig dahinsegelnde Gebilde, es waren kleine Kalmare. Ich brachte meine Blödsinns-Kinderharpune in Anschlag, und was glaubt Ihr, was ich traf: gar nix.

Heute muß ich sagen: Gott sei Dank! Die letzten lebenden Unterwasser-Widerständler des Côte d’Azur-Strandlebens haben mit ihrer Heroik gegen Umweltverschmutzung Besseres verdient, als von mir harpuniert zu werden. Außerdem ist es naheliegend, daß sie nach genau dem Müll schmecken würden, der meine Tauchgründe verhunzte. Die Fischer wissen, warum sie mit Netz und Bogenlampe weit hinausfahren, um vor der Küste wie Glühwürmchen nächtens am Horizont zu irrlichtern. Jedenfalls waren die Erlebnisse für mich die tintenfischmäßige Initialzündung.

Am nächsten Morgen sehe ich am Hafen die Capitanos ihre gefangenen Oktopusse an die Kaimauer klatschen. Als wollten sie an den als Meeresungeheuer zu Unrecht verschrienen Pulpo alle Ängste weiterreichen, welche durch Seemannsgarn Fangarme zu Schlangen werden lassen. Solange wird an die Kaimauer gekloppt, bis die Seele aufatmet. Aber was Literatur und Aberglaube dazu Verwirrendes zu bieten haben, kümmert den Küstenfischer wenig. Ehrlich gesagt, es geht nur darum, das Fleisch mürbe zu walken. Danach läßt sich die lilafarbene Haut leichter abziehen. Alle sogenannten Kopffüßer sind mehr oder weniger zäh, und ein kiloschwerer Oktopus will gut und gerne zwei Stunden gekocht sein. Daraus wird dann der berühmte Radiergummisalat unserer Pizzerien und Ristorante, der von Staudensellerieblättern, Zitrone, Pfeffer und Salz und meist einer fatalen Ladung Knoblauch zusammengehalten wird. Kein Wunder, bei einer spontanen Umfrage konnte mir niemand beantworten, wie diese Tiere überhaupt schmecken. Hier sei es verraten: Sie schmecken tatsächlich etwas tintig. Deutliches Aroma zeichnet sie nicht aus, und viel davon entfleucht und füllt Küche, Wohnung, oft auch das Terrain der Nachbarn mit stumpfem Odeur von Kochfisch.

Die stundenlange Kocherei wollte ich mir in meinem formidablen Ferienhäuschen nicht antun. Andererseits kann man sich Wurstsalat oder sonstige teutonische Kulinarik-Eckpfeiler zu Hause auf die Teller packen. In den Restaurants Cavalaires holte ich mir die Inspirationen und auf dem Wochenmarkt unweit des Strandrummels das Equipment für eigene Versuche: Calamaris. Sie haben schmale Körper und am spitz zulaufenden Ende beidseitig Flossen. Die Tentakel werden kurz vor den Augen abgeschnitten und anschließend der Körper längs aufgeschlitzt. Das Fleisch ist im Gegensatz zu dem des Oktopus ziemlich dünn, was sich deutlich zeigt. Mit dem flachen Messerrücken streift man alles heraus. Auch das Tintensäckchen, das meist bei längerem Transport, beispielsweise bis Deutschland, kaputtgeht. In Italien ist die Tinte ein Gegenstand nahezu mystischer Verehrung, aber unter uns: So toll ist der Geschmack nicht.

Neue Gerichte, gemischte Gefühle. Ich erinnere mich an einen Risotto nero, schwarz, weil er mit Calamaris-Tinte angereichert war. Mit großem Gelächter schafften wir damals das Gericht hinter die Gurgel. Allesamt hatten wir rabenschwarze Zähne. Unser Lachen legte frankensteinsche Kauwerkzeuge frei. Seither habe ich mit Tinte nicht mehr experimentiert.

Also zurück in die zum Garten hin offene Bungalowküche, zu den frisch gekauften Calamaris. Ich hätte sie weichkochen, die Körper in Ringe schneiden und die Tentakeln zu mundgerechter Länge stutzen können. Das habe ich nicht getan. Großer Hunger gestattet keine Umwege. Die Dinger wurden sofort gesäubert und dann in Streifen geschnitten. Olivenöl in die Pfanne und unter erheblichen Rauchzeichen – schnell, schnell muß es gehen – von allen Seiten geschwenkt, gepfeffert und gesalzen und gleich auf einen bereitgestellten Teller gekippt. Dann Schalotten in die heiße Pfanne und mit Knoblauch angehen lassen. Die Calamaris dürfen auch wieder in die Pfanne, und nun werden sie mit gehackten Kapern und reichlich Petersilie geschwenkt. Ist das Gericht heiß, aber die Streifen innen noch etwas roh, hat man alles richtig gemacht.

Zu den Kapern: Wir kennen sie hauptsächlich in Essigwasser. Bei Einkäufen beim Italiener könnte man jedoch sein Augenmerk auf gesalzene Ware lenken. Sie werden vor Gebrauch über Nacht in klarem Wasser eingeweicht und sind dann mild und typisch, je nachdem, wie lange man wässert oder die Flüssigkeit austauscht.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 9. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 9

No. 9August / September 1998

Von Vincent Klink

Vincent Klink ist Chefkoch des Stuttgarter Restaurants Wielandshöhe (1 Michelin-Stern)

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Person Von Vincent Klink
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