Punkt, Punkt, Pinsel, Strich

Der Franzose Henri Cross gehört zu der Gruppe jener Künstler, denen es vor mehr als 100 Jahren gelang, Licht in Form kleiner Punkte auf die Leinwand zu bringen. Aber er blieb der einzige Pointillist, der sich an das Sujet des Meeresbilds herantraute

Vielleicht kommen wir ja doch alle aus dem Meer. Haben lange gebraucht, bis uns die Schuppen abgefallen sind, und sitzen noch immer am Ufer und träumen in die Wellen, die von weither reisen und nirgendwohin müssen. Und weil es so ist, dass wir nie bleiben dürfen und immer irgendwohin müssen, tragen wir unsere Bilder im Kopf mit uns herum – die flirrenden Lichtpunkte im Wasser, die tanzenden Muster aus Schaum, den einsamen Baum am Strand, die kolossale Leere dort und die Inseln draußen und den geraden Strich, auf den sich der Himmel stützt.

Es sind ja lauter Sehnsuchtsbilder. Bilder des unstillbaren Verlangens. Nostalgia mediterranea. Unter allen Pathologien die unheilbarste. Und weil man es nicht aushält, fährt man ihr halt immer wieder nach, der Sehnsucht. Und dann ist man endlich da, am Meer – wo das Grundrecht der körpersüchtigen Menschen längst auf Handtuchbreite beschränkt worden ist. Unsere Bilder im Kopf, es sind die verletzlichsten Bilder. Damit sie nicht immerzu an der Realität scheitern, gibt es die Kunst. Und unter den Künstlern die Maler. 

„Wir sind hier“, schreibt der Maler Henri Edmond Cross, es ist ein warmer Novembertag im Jahr 1899 und kein Handtuch weit und breit am Strand, „wir sind hier ganz am Rand des Meeres, zwei Kilometer von einem kleinen Fischerdorf: Le Lavandou, das man auf keiner Karte findet. Suchen Sie ungefähr auf halber Strecke zwischen Hyères und Saint-Tropez, aber ein bisschen näher an Ersterem. Saint-Clair ist eine Ebene, auf der verstreut an die zwanzig Häuser stehen oder, besser gesagt, Landgüter, bewohnt von Bauern, die Wein und Grünzeug anbauen.“ Von Touristen schreibt er nichts. Mit „wir“ meint er sich und seine Frau Irma Clare, mit der er seit 1893 verheiratet ist.

Drei Jahre vor dem Brief an den Freund malt der Maler „La plage de Saint-Clair“. Die krakeligen Pinien, die der Wind verbogen hat. Das Morgensonnenrot hinter den Inseln. Die flirrenden Lichtpunkte, die auf der Leinwand zu unzähligen Farbtupfen trocknen. Und den einsamen Angler, der ins Bild tritt. Niemanden sonst. Gerne wäre man Cross’ Freund gewesen: „Sollten Sie je daran denken, diese wunderschöne Küste zu besuchen, dann müssen Sie wissen, dass hier Ihr Zuhause ist, bei uns, und das aus tiefstem Herzen.“

Unter den Malern war Henri Edmond Cross einer der ersten, die im damals noch unberührten Süden Frankreichs heimisch wurden. Van Gogh hatte in Arles eine Bleibe gesucht. Gauguin ihn dort besucht. Cézanne stieg mit Hocker und Klappgerüst auf dem Rücken durch die Provenceberge und malte die Montagne Sainte-Victoire. Aber für die tanzenden Muster aus Schaum hatten sie alle keinen Sinn. Schon Courbet oder Monet, die in den anbrandenden Wellen das Drama der bedrohten Existenz entdeckten, hielten sich nicht länger als bildnotwendig auf den Falaisen über dem Meer auf. Dass die „plage“ mit ihren naturwüchsigen Attraktionen den Boulevards in Paris und den Park­wegen im Bois de Boulogne zumindest ebenbürtig sein könnte, kam ihnen noch nicht in den Sinn. 

Jahrhundertelang war die Bildungsreise in den Süden Karrierebedingung. Generation um Generation standen die Künstler in antiken Ruinen, schauten an schlanken Zypressen hoch, malten Frauen mit Wasserkrügen auf dem Kopf. Das Meer und die südliche Sonne malten sie nicht. Noch Goethe stand sinnend am Fenster seiner römischen Wohnung oder ließ sich von Freund Tischbein in der Campagna als eine Art Brunnenfigur mit Borsalino porträtieren. Dass er sich wie Caspar David Friedrichs Mönch ans Meer vorwagte, kam im klassischen Programm nicht vor. 

Was Cross sucht, als er nach Saint-Clair zieht, hat er nicht verraten. Sonne? Ruhe? Einsamkeit? Die südfranzösische Küste hat man sich Ende des 19. Jahrhunderts als weithin unberührten Landstrich vorzustellen. Von Paris aus fuhr, wer raus wollte, ein Stück die Seine entlang, kam bis Giverny, wo Monet seinen japanoiden Garten mit dem famosen Seerosenteich anlegen ließ. Oder man übersommerte oder überwinterte in der Bretagne und der Normandie. Die Berge, die sich vor den Mittelmeerbuchten türmen, waren lange wie eine Barriere. Und die Strände mit ihrer Macchia überließ man den Fischern und der Landbevölkerung, die in ihren kleinen Dörfern das Hinterland besiedelte. Die wenigen Grandhotels, die in Nizza und Imperia entstanden, sind allenfalls von der Upper Class aus England frequentiert worden. Es ist also nicht falsch, wenn man Cross als Pionier beschreibt. Und falsch ist auch nicht, wenn man sagt, er findet, was er vielleicht gar nicht gesucht hat. Ungemalte Motive, auf die sich alsbald eine halbe Generation malender Kollegen stürzen wird.

Ein Star ist er nicht, als er nach Saint-Clair zieht. 1000 Francs, immerhin, überweist ihm monatlich sein Pariser Kunsthändler Bernheim-Jeune. Das reicht für ein kleines Atelierhaus und einen Garten mit Bühnentauglichkeit. „Seit drei Tagen stürmt der Mistral unter einem strahlend blauen Himmel. Die Mimosen halten stand, aber die Eukalyptuszweige knicken, und es schneit unter die blühenden Mandelbäume. Das Licht ist entzückend. Ich bin immer noch der Meinung, dass dies die schönste Gegend der Welt ist.“ Und bald sind auch andere davon überzeugt: Matisse, Bonnard, Picasso, Chagall … Was wären unsere Bildervorräte im Kopf ohne die unerschöpflichen Traumberichte, die uns die frühe Moderne liefern sollte? Und wenn später die Côte zum Sehnsuchtsziel und vorrangigen Kreativraum werden wird und alle von luxe, calme et volupté schwärmen, dann hat Henri Edmond Cross eine der produktivsten Traditionen der Moderne mitbegründet. Dabei ist dem Mistralbeobachter das entzückende Licht keineswegs schon in Kindheit und Jugend aufgegangen. 

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mare No. 155

mare No. 155Dezember 2022 / Januar 2023

Von Hans-Joachim Müller

Hans-Joachim Müller, Jahrgang 1947, ehemals Feuilletonchef der Basler Zeitung und Kunst­kritiker der Zeit, ist heute Autor im Feuilleton der Welt. Er lebt in Freiburg im Breisgau und in Süditalien.

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Vita Hans-Joachim Müller, Jahrgang 1947, ehemals Feuilletonchef der Basler Zeitung und Kunst­kritiker der Zeit, ist heute Autor im Feuilleton der Welt. Er lebt in Freiburg im Breisgau und in Süditalien.
Person Von Hans-Joachim Müller
Vita Hans-Joachim Müller, Jahrgang 1947, ehemals Feuilletonchef der Basler Zeitung und Kunst­kritiker der Zeit, ist heute Autor im Feuilleton der Welt. Er lebt in Freiburg im Breisgau und in Süditalien.
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