Placebo gegen Flugangst

Jets haben Schwimmwesten an Bord. Warum eigentlich?

Der Nachbar im Flieger der American Airlines von London Heathrow nach Miami klammert sich an der Armlehne seines Sitzes fest, sobald die Boeing auf der Startbahn beschleunigt. In dem kritischen Augenblick, da das Flugzeug über die Piste rumpelt, die Tragflächen wie die Schwingen eines flügellahmen Vogels auf und nieder wippen und die Schwerkraft den rasenden, 300 Tonnen schweren Giganten einfach nicht loslassen will, scheint der allgemeine Adrenalinspiegel leicht zu steigen. Von der ersten bis zur letzten Reihe klopfen die Pulsschläge gegen die dröhnenden Motoren an. Kaum aber hebt die Boeing ab, entspannt sich die Situation, die beim Start unterbrochenen Gespräche setzen wieder ein, die Klimaanlage saugt die letzten Nebel von Flugangst aus der Kabine.

Die Bildschirme über den Köpfen der Passagiere flappen herunter, und im Werbestreifen der Fluggesellschaft schwebt ein Jet über makellos weiße Wolken. Der Sitznachbar schlägt seine Zeitung auf und vertieft sich in den Wirtschaftsteil. Der Dame in Stewardessen-Uniform, die nun auf dem Bildschirm erscheint, widmet er keine besondere Aufmerksamkeit mehr. So zieht sie sich weitgehend unbeobachtet vom lesenden Sitznachbarn und auch von den übrigen 200 Passagieren die leuchtend gelbe Schwimmweste über, schnürt sie mit den schwarzen Gurten fest um die Taille und zieht zweimal ruckartig an den Bändeln links und rechts. Die Stimme aus dem Kopfhörer beschreibt in wunderbarer Redundanz, was man sieht.

In der nächsten Sequenz schwimmt die Stewardess im Wasser. Die Schwimmweste ist nun aufgeblasen, und der Kopf der Frau sitzt darauf wie auf einem Kissen. Das Wasser, in dem sie schwimmt – oder besser nicht schwimmt, sondern sich mit stoischem Lächeln treiben lässt – ist ruhig, so ruhig wie ein Bergsee an einem Sommertag. Aber es scheint keine Sonne, die Szenerie ist in ein neutrales Studiolicht getaucht. Das Flugzeug hat die Erde inzwischen weit unter sich gelassen, und die Tragflächen durchschneiden flockige Kumuluswolken wie Tortenmesser. Es ist nicht möglich festzustellen, ob die Oberfläche des Atlantiks Tausende Meter tiefer auch so spiegelglatt ist wie das Gewässer, in dem die Stewardess treibt.

Die Erinnerung an einen amerikanischen Katastrophenfilm aus den Siebzigern stellt sich ein: Ein Flugzeug stürzt ins tosende Meer. Selbstlose Retter bergen die schicksalsergebene amerikanische Familie ebenso wie die ältere Dame mit toupierter Frisur. Sogar solche, die es gar nicht verdient hätten, werden aus dem Inferno gezogen wie Fische an der Angel. Und alle tragen sie die gelbe „Life Vest“ wie ein Symbol menschlichen Triumphs über die Schrecken der Natur.

Seit zivile Flugzeuge längere Strecken über Gewässer fliegen, gehört die Schwimmweste zum festen Bestandteil der Sicherheitsausrüstung. Im Propellerzeitalter kam es zu zahlreichen Wasserungen. Sie liefen nicht selten recht glimpflich ab. Flugzeuge der Typen DC-3 bis DC-7 und sogar die legendäre, bananenförmige „Super Constellation“ wasserten mehr oder minder erfolgreich; eine Mehrzahl der Passagiere und Crew-Mitglieder überlebte die feuchte Landung. Als jedoch 1965 eine erst drei Monate alte Boeing 727 der United Airlines auf ihrem Flug von New York nach Chicago auf dem Lake Michigan aufsetzte, starben alle 30 Insassen. 1996 versuchte es eine Boeing 767 der Ethiopian Airlines vor den Komoren, weil ihr der Sprit ausging. Das linke Triebwerk und die linke Flügelspitze streiften das Wasser. Das Flugzeug brach entzwei und stürzte ab. Gerade mal 50 der 175 Passagiere und Crew-Mitglieder konnten lebend geborgen werden. Wer einen solchen Crash übersteht und sich aus dem Flugzeug retten kann, den hält die Schwimmweste über Wasser, bis Rettung eintrifft. Natürlich. Wobei auch Fälle überliefert sind, in denen Passagiere, die keiner Schwimmweste habhaft werden konnten, überlebten, indem sie – teilweise längere Zeit – von alleine schwammen.

Im Jet-Zeitalter gilt die Wasserung nicht mehr als Notfallmanöver. In keinem Flugsimulator der Welt kann sie geübt werden, und die Faustregeln, die die Piloten zu lernen haben, sind allenfalls gut fürs Theoriebuch: „Wassern parallel zur oder mit der Strömung und auf dem Kamm oder im Lee einer Welle, nie gegenan.“

Das Problem beginnt jedoch bereits in der Möglichkeit, die Strömungsrichtung zu erkennen. Fliegt man unter 2000 Fuß – 600 Meter – gilt es als äußerst schwierig, auszumachen, wohin der Strom setzt. Aus einer höheren Warte behindern wiederum Wolken die Sicht. Und es ist ja nun ausgemacht, dass Katastrophen nur selten bei schönstem Sonnenschein stattfinden. Die modernen Flugstraßen sind deshalb so ausgelegt, dass ein Flugzeug jederzeit innerhalb von drei Stunden auf einem Flugplatz landen kann.

Schwimmwesten sind, wenn überhaupt, die letzten Glieder in einer langen Kette der Sicherheitsmaßnahmen. Über konkrete Erfahrungen, geschweige denn Statistiken, in wie vielen Fällen Schwimmwesten Leben retten konnten, verfügen die Fluggesellschaften nicht. Und selbst auf amerikanischen Websites, auf denen Flugunfall-Freaks alle möglichen Zahlen aufhäufen, fehlt die Schwimmweste als statistische Größe.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 16. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 16

No. 16Oktober / November 1999

Von Ronald Schenkel und Jürg Waldmeier

Ronald Schenkel, Jahrgang 1964, ist freier Journalist und Publizist.

Jürgen Waldmeier, Jahrgang 1963, ist Fotograf. Beide leben in Zürich und arbeiten regelmäßig zusammen.

In mare Nr. 10 haben sie den Schweizer Schiffsmotoren-Hersteller New Sulzer Diesel porträtiert.

Mehr Informationen
Vita Ronald Schenkel, Jahrgang 1964, ist freier Journalist und Publizist.

Jürgen Waldmeier, Jahrgang 1963, ist Fotograf. Beide leben in Zürich und arbeiten regelmäßig zusammen.

In mare Nr. 10 haben sie den Schweizer Schiffsmotoren-Hersteller New Sulzer Diesel porträtiert.
Person Von Ronald Schenkel und Jürg Waldmeier
Vita Ronald Schenkel, Jahrgang 1964, ist freier Journalist und Publizist.

Jürgen Waldmeier, Jahrgang 1963, ist Fotograf. Beide leben in Zürich und arbeiten regelmäßig zusammen.

In mare Nr. 10 haben sie den Schweizer Schiffsmotoren-Hersteller New Sulzer Diesel porträtiert.
Person Von Ronald Schenkel und Jürg Waldmeier