Ostseensucht

Auf der Fähre von Kiel nach Litauen spielen nachts zwei Musiker für Touristen, Neureiche und Zivilisationsmüde

Kurz nach Acht legen Zenius Zakelis und Romualdas Malasauskas ihre Dienstkleidung an: ein rotes und ein schwarzes Jackett, dazu eine Fliege. Die Hände vor dem Schoß verschränkt, schreiten sie über den grau melierten Teppichboden, den Kopf leicht gesenkt, vorbei an Sesseln und Sitzgruppen in der gleichen Farbe.

Abendlicht fällt durch die Scheiben auf die improvisierte Bühne, auf der ein auf-gebocktes Keyboard, zwei Mikrofone und eine Lautsprecherbox für den rechten Klang sorgen sollen; am anderen Ende des Raums die Bar, verspiegelt und dicht besetzt.

Ein Kopfnicken, eine knappe Ansage und zwei, drei Instrumentals zum Warmwerden. Tschik-Tschik-Tschik macht der Rhythmuscomputer. Zenius wiegt den Oberkörper sanft hin und her, während Romualdas sein Saxophon senkt und sein rechter Fuß den Takt mitklopft. Tiefes Luftholen, und sie heben an zu singen: vom Leben mit all seinen Klippen und Untiefen, von der Liebe, und wie aus der Liebe Schmerz wurde, der nicht vergehen will. Zuweilen halten sie kurz inne und nehmen den zögerlichen Applaus entgegen, verbeugen sich artig, auf dass das nächste Lied sich seinen Weg durch das Stimmengewirr bahne. Ab und zu fällt die schwere Tür ins Schloss, die auf das Sonnendeck führt, wo ein Dutzend leerer, von der feuchten Meeresluft mit Tropfen überzogener Liegestühle steht, dahinter die Ostsee, die sich im Zwielicht verhalten, angenehm wellenruhig, gibt.

So geht es zu, abends in der Kapitano-Bar an Bord der „Kaunas“, wo man sich aufhält, nachdem die letzte Mahlzeit gereicht wurde, wohin man flüchtet, wenn der Wind auffrischt und eine Gänsehaut die Arme hochkriecht, wo die Getränkepreise zivil sind – ein Halber für drei, ein Wodka für fünf Mark. Auf dem Weg von Kiel nach Klaipeda, der litauischen Hafenstadt, vormals Memel genannt, geht es die mecklenburgische Küste entlang, an Rügen und Bornholm vorbei und schließlich über die offene Ostsee.

Die Geschichte der „Kaunas“ ist wechselvoll. 1974 in Wismar gebaut, diente das Schiff gut 20 Jahre als Truppentransporter der damals noch „ruhmreich“ genannten Roten Armee. Auf Eisenbahnwaggons schob man Panzer und schweres Gerät in den Schiffsbauch. Dem Fußvolk blieb, unter Deck zwischen den Schweröltanks in Hängematten zu kampieren.

Nach dem Abzug der russischen Truppen aus der ehemaligen DDR erhielt das Schiff eine zivile Bestimmung, und die kyrillischen Buchstaben wurden übermalt. Seitdem transportiert das etwas unförmige Schiff, das sich stoisch das ganze Jahr über durch die Ostsee pflügt, Container und LKWs – maximal anderthalb laufende Kilometer Fracht, alle Güter hintereinander gestellt –, und bis zu 210 Passagiere.

Die Klientel für Klaipeda setzt sich der Route entsprechend zusammen: baltische Neureiche neben bundesdeutschen Autohändlern, dazu zivilisationsmüde Fahrradfahrer, die drüben nach der unberührten Natur fahnden. Das größte Kontingent jedoch bilden die Heimwehdeutschen, jener Menschenschlag also, der sich beim Einchecken stolz das jeweilige Geburtsjahr zuruft, von 1911, 1912 bis um 1945. Geboren und aufgewachsen im Memelland, auf der Nehrung, in Ostpreußen, sprechen sie vom Baltikum mit noch immer verletztem Ehrgefühl: „Und dann mussten wir ja weg.“ Obwohl das Memelland schon seit 1919 nicht mehr zu Deutschland gehört und nur von 1939 bis 1945 noch einmal, sind die Fährgäste mit Vertriebenenvergangenheit nicht sparsam mit Ratschlägen, wie man jene vertraute, fremde Region wieder auf Vordermann bringen könnte – touristisch, ökonomisch und überhaupt. Ausdauernd können sie sich darüber ereifern, warum das kleine Gefährt, das sie vorhin an Bord brachte, Shuttlebus und nicht Zubringerbus heißt. Sie ersparen sich den langen Landweg und nutzen die grenzenlose Ostsee, um schnurstracks von Deutschland jetzt nach Heimat einst zu gelangen, ohne Zwischenstop, ohne Umwege. Das Meer, offen und vertraut zugleich, ist wie eine Leinwand, auf der ein Gedächtnisfilm abläuft: das Elternhaus, die Schule, die verwinkelten Straßen, tief liegende Wolken über den endlosen Feldern. Nachts kämpfen die Heimkehrer auf Zeit in den schmalen Kojen mit ihren Erinnerungen und Wünschen; mit dem, was war, und dem, was hätte sein können.

Dass Zenius Zakelis und Romualdas Malasauskas einmal vor ihnen spielen würden, haben die Künstler nicht geahnt. Beide sind ausgebildete Konzertmusiker; in der Sowjetzeit hatten sie als staatlich anerkannte Künstler eine gesicherte Existenz. Das ist Vergangenheit. Beiden blieb, sich im Wirrwarr aus Resten staatlicher Plan- und Anfängen der neuen Marktwirtschaft eine Nische zu suchen. Nicht nur in den Fußgängerzonen westeuropäischer Städte hat sich nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus die musikalische Qualität stark verbessert.

Romualdas wartet mit solidem Klarinettenspiel auf, erworben an der Musikakademie in Kaunas, der zweitgrößten Stadt der damals noch sowjetischen Republik Litauen. Lange spielte er in einer Big Band, im Rückblick seine große Zeit: mit Auftritten überall in der damaligen UdSSR, unterbrochen durch drei Jahre Militärdienst als Clubleiter einer Baukolonne, wo er den Soldaten das Akkordeonspielen beibrachte.

Es ist seine erste Saison auf der „Kaunas“. Nein, große künstlerische Ansprüche stellt er an sein Publikum nicht. Er sei ein ganz normaler Mann, der nun auf für litauische Verhältnisse recht angenehme Weise sein Geld verdiene. Folglich nennt er das Schiff sein Erholungsheim und preist die solide Verpflegung, die netten Kollegen, die gelungene Mannschaftsbetreuung inklusive Fitnessraum und Basketballfeld unten neben dem Maschinenraum.


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mare No. 18

No. 18Februar / März 2000

Von Frank Keil und Charles Bullermann

Frank Keil, Jahrgang 1958, lebt als Journalist und Autor in Hamburg. In mare No. 13 schrieb er über die Reiseerinnerungen des Einhandseglers Peter Nichols.

Charles Bullermann, Jahrgang 1948, lebt als Bildender Künstler und Fotograf in Berlin. Dies ist seine erste Arbeit für mare

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Vita Frank Keil, Jahrgang 1958, lebt als Journalist und Autor in Hamburg. In mare No. 13 schrieb er über die Reiseerinnerungen des Einhandseglers Peter Nichols.

Charles Bullermann, Jahrgang 1948, lebt als Bildender Künstler und Fotograf in Berlin. Dies ist seine erste Arbeit für mare
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Vita Frank Keil, Jahrgang 1958, lebt als Journalist und Autor in Hamburg. In mare No. 13 schrieb er über die Reiseerinnerungen des Einhandseglers Peter Nichols.

Charles Bullermann, Jahrgang 1948, lebt als Bildender Künstler und Fotograf in Berlin. Dies ist seine erste Arbeit für mare
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