Offene See, geschlossener Deich

Venedig und Amsterdam, die beiden Seehandels-Metropolen, sind sich ähnlich – außer wenn die Flut kommt

Am Wasser gebaut, vom Wasser bedroht – Venedig und Amsterdam, Venezien und die Niederlande, haben mehr als diese Gemeinsamkeiten. Beide bestimmten als mächtige Handelsnationen die wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents. Beide Gemeinwesen lagen in den wohlhabendsten und am dichtesten bevölkerten Gegenden des europäischen Kontinents. Und beide waren von absolutistischen Nachbarstaaten bedroht.

Das Wasser begründete die Existenz der beiden Länder – der Historiker Salvatore Ciriacono hat Venedig und die Niederlande sogar als „hydraulische Republiken“ bezeichnet. Für Hydraulik als Wissenschaft von den Strömungen wie auch für die Republik, hier die Herrschaft der Patrizier und Kaufleute, war Dezentralität grundlegend. Die Kenntnisse der Küstengewässer, der optimalen Deichprofile und Wellenbrecher oder der vielen Tricks bei der Be- und Entwässerung der Gebiete unmittelbar hinter den Dämmen und Deichen entstanden durch Erfahrungen vor Ort.

Die Venezianer waren gewohnt, Entscheidungen selbst zu fällen: Im venezianischen Staatsgebiet auf dem Festland blieben den örtlichen Verwaltungen ungewöhnlich viele Rechte überlassen, für oberitalienische Verhältnisse jedenfalls; die Stadtvenezianer befanden über ihre Angelegenheiten ohnehin selbst. Und in den Niederlanden war eine dörfliche Wasserbau-Selbstverwaltung aus sich selbst heraus entstanden. Aus gutem Grund änderten sich alle paar Kilometer entlang der Deichlinie die Institutionen und Ämter, die Rechte und Pflichten der Anwohner.

König Philipp wird den Aufruhr nicht vorhergesehen haben, den er unter den Niederländern auslöste, als er diese alten Rechte abschaffte, um eine einheitliche Deichverwaltung einzusetzen – und dies auch noch mitten in der Aufbruchstimmung der Reformation. Philipp II. von Spanien herrschte seit 1555 über die Niederlande, ein Habsburger, strenger Katholik und absolutistischer Herrscher. Er begann einen grausamen Rachefeldzug gegen die Unbotmäßigkeit und Bilderstürmerei der Calvinisten. Daraus erwuchs ein Krieg nicht nur zwischen Reformation und Gegenreformation, sondern auch zwischen Zentralgewalt und Dezentralität, und dazu noch ein Kampf um das physische Überleben – die Dämme waren in Gefahr, und die Niederländer wussten, dass ihnen deswegen Lebensgefahr drohte. Denn die neuen Deichämter der Habsburger waren Ehrenposten für verdiente Freunde des Hauses, die bar jeder Sachkenntnis sein konnten. Diese Amtsträger erhoben hohe Wasserbausteuern, die in der Staatsschatulle verschwanden, statt in die Befestigungen entlang der Küste und der Ströme gesteckt zu werden. Blieb aber deren Pflege aus, drohten Deichbruch und Tod.

„Tyrannische See! Tyrannisches Spanien!“ lautete denn auch ein Schlachtruf, mit dem sich 1581 die nördlichen Niederlande ganz von Habsburg lossagten – letztlich erfolgreich. 1583 eroberten die Spanisch-Katholischen die Metropole Antwerpen, die damals wichtigste Handelsstadt Nordwesteuropas. Viele reformierte Fernhändler flohen nach Amsterdam; sie trugen mit ihrem Kapital, ihren Schiffen und ihren internationalen Kontakten entscheidend zur schnell erreichten wirtschaftlichen Vormachtstellung der Niederlande in der ganzen Welt bei.

Als nach schweren Sturmfluten mit großen Landverlusten die Lage an den Nordseeküsten wieder stabilisiert war, hatte sich auch das neue, unabhängige niederländische Gemeinwesen gefestigt. Im Westfälischen Frieden, der 1648 den 30-jährigen Krieg abschloss, erkannte ganz Europa die Unabhängigkeit der Niederlande an. Feindschaft verbindet: Venedig, selbst in einen bitteren Konkurrenzkampf mit Spanien verwickelt, hatte die Niederlande schon 1614, noch vor Kriegsausbruch, diplomatisch anerkannt und ihnen einen Konsul in die Hauptstadt geschickt.

Landgewinnung war für beide Staaten vordringlich. Sie brauchten mehr Ackerflächen, um die Bevölkerung zu versorgen. In beiden Ländern stiegen die Getreidepreise, was die teuren Trockenlegungsprojekte für Finanziers interessant machte. Verblüffend ähnlich die Folgen: Beide Republiken schufen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts je 70 bis 80000 Hektar Neuland aus See und Sumpf. Aber allmählich begann Venedig zurückzufallen. Denn anders als in den Niederlanden saßen in Venezien die Landeigentümer nicht an der Küste, sondern in der Stadt. Sie bewirtschafteten das Land nicht selbst und legten deswegen auch nicht die für die Niederlande typische Experimentierbereitschaft an den Tag, die zu ständig verbesserten Pumpmühlen und Schlammbaggern führte. Niederländische Spezialisten brachten ihre neuen Maschinen und Techniken nach Ober- und Mittelitalien – nur in Venezien fehlte es an Interesse. Deswegen fiel die „Serenissima“ zurück: Vom Ende des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden in den Niederlanden 240000 Hektar Land gewonnen, im Festlandsvenedig – immerhin noch – 180000 Hektar.

So ähnlich die materiellen und politischen Voraussetzungen Venedigs und der Niederlande waren, so unterschiedlich fielen ihre religiösen oder philosophischen Interpretationen aus. Die See stellte für die beiden Staaten eine permanente Bedrohung dar. Den Niederländern galten Sturmfluten und Hochwasser, die innerhalb von Stunden die Kultivierungsarbeit von Jahrzehnten vernichten konnten, schon immer als Unglücksfälle, deren Ursachen nicht in der Natur zu liegen schienen – göttliche Gewalt eben. Aber wann kam der Tod, wann blieb das Leben?


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mare No. 18

No. 18Februar / März 2000

Von Dietmar Bartz

Dietmar Bartz ist Chef vom Dienst bei mare. In Heft 8 schrieb er über Spielzeug, das auf hoher See treibt.

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Vita Dietmar Bartz ist Chef vom Dienst bei mare. In Heft 8 schrieb er über Spielzeug, das auf hoher See treibt.
Person Von Dietmar Bartz
Vita Dietmar Bartz ist Chef vom Dienst bei mare. In Heft 8 schrieb er über Spielzeug, das auf hoher See treibt.
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