„Nur das Meer kann uns retten“

Er investiert und verliert Millionen, wälzt Gesetzestexte und verhandelt mit Stammesführern, nur um einen eigenen Staat zu gründen. Psychogramm einer seltenen Obsession

Sehr geehrter Herr Ladischensky,


ich habe Ihr Magazin gelesen, und es scheint in Ordnung. Wenn Sie nach Carson City, Nevada, kommen, um mich zu treffen, geht das auf Ihre eigenen Kosten oder die Ihres Magazins und / oder zulasten einer anderen Entität, mit der sie teils oder ganz in geschäftlicher Beziehung stehen oder stehen könnten. Ich bin nicht reich und lebe in einem kleinen Haus. Bevor Sie etwas über mich veröffentlichen, möchte ich es sehen. Dazu benötige ich Ihre persönliche Einverständniserklärung mit notarieller Beglaubigung. Ich habe schlimme Erfahrungen mit Autoren gemacht. Einer hat geschrieben, ich lebte auf einem bewaldeten Herrensitz, umgeben von stiefelleckenden Lakaien, darunter eine ehemalige Miss Nevada. Ich bin ein alter Mann und will keine Aufmerksamkeit, besonders keine von Faschisten, linken, rechten oder welchen auch immer. Ich mache eine Ausnahme nur unter der oben genannten Bedingung.

Beste Grüße
Michael Oliver


Pappeln im Wind, ein weisses Holzhaus, Rasen, zwei Autos, „Mike 10“ steht auf einem Nummernschild. Michael Oliver tritt vor die Tür seines Hauses und sieht die amerikanische Flagge am Eingang bauschen. Er schaut sie an, den Mund zum Anflug eines Lächelns gekräuselt, schaut durch sie hindurch, mit einem fernen Blick. „Wir müssen das Land verlassen“, sagt er gedankenverloren. Draußen steht der Mond über der Wüste, voll und bleich. Eine Wüste aus farblosen Sträuchern. Stromleitungen ziehen von Mast zu Mast, Vögel warten, U.S. Highway 395, Kakteen mit erhobenen Armen. „Es gibt viele“, lächelt er, „viele, die mit mir gehen wollen. Gebt mir einen Platz auf dem Wasser, eine Plattform im Meer, ein ausrangiertes Schiff, und 20 Millionen Amerikaner wollen mit.“

Er geht wieder ins Haus, zieht die Tür zu und schließt zweimal ab. Er hängt seine Jacke auf und schaut aus dem Fenster. Lichter blinken durch die Gräunis des Morgens, auf dem Highway schnaufen die ersten Trucks, und die letzten Casinos schließen. „1000 Dollar for Eugene Smith. Eugene, where are you? 1000 cash!“, plärrt ein Lautsprecher. „Eugene Smith, I don’t see you. 1000 Dollar. Eugene, I give you two minutes to come up here and get your 1000 Dollar cash!“, schallt es in die Wüste. Carson City liegt in einem weiten Tal und unter einem weiten Himmel, umgeben von Sträuchern, Klapperschlangen und Geiern, die ihr Jagdrevier überwachen, Hunderte Quadratkilometer schattenlose Prärie, und mittendrin: Autohäuser mit blinkender Reklame, Fastfoodrestaurants, 7 eleven, Kentucky Fried Chicken, American West Guns, Nugget Casino.

Er sei nach Nevada gezogen wegen der Bordelle und der Casinos, sagt er, nicht weil er dafür anfällig wäre, sondern weil Nevada frei ist. Weil hier Dinge möglich sind. Weil Nevada aus dem Nichts etwas schafft, Städte wie Las Vegas oder Carson City. Wo sonst als hier, einer Stadt, die die Künstlichkeit lebt, die in einem schöpferischen Akt der Wüste implementiert wurde, die sich zitternd wie eine Luftspiegelung erhebt, wo sonst als hier musste die Idee einer schwimmenden Stadt entstehen? Einer künstlichen Insel in einer Wüste aus Wasser. Hier, im hitzeflimmernden Nevada, findet er bei näherer Betrachtung aber auch den Grund, warum er fliehen will. Schilder an den Hauseingängen, „House for sale“. Die Krise. Ist der freigelassene Kapitalismus dafür verantwortlich? „Nein!“ Er ist entrüstet. „Eine Regierung sollte Banken nicht zwingen, Kredite an Leute zu vergeben, damit sie sich Häuser kaufen, die sie sich nicht leisten können.“ Seine Stimme zittert. „Solange die Immobilienpreise stiegen, platzte das Geschwür nicht, jederzeit konnte mit Gewinn verkauft werden. Doch die Bäume wachsen nicht in den Himmel, die Preise sind abgestürzt. Sechs Millionen Häuser sind auf Schulden gebaut, Schulden, für die keiner aufkommt.“ Er hebt die Brauen. „Die Regierung und ihr Altruismus sind für die Katastrophe verantwortlich. Die verfluchten Faschisten, die sich Liberale nennen.“ Er holt Luft. „Die Straße zur Hölle ist gepflastert mit guten Absichten.“ Er schaut sich um, beugt den Kopf verräterisch: „Das dunkle Zeitalter. Verstehen Sie? Ich stand schon einmal davor. Ich muss das nicht noch mal haben.“

Seine Frau Barbara kommt aus der Küche, „hello darling!“, glückstrahlend reicht sie ihm ein Schälchen Müsli. „Immer mit warmer Milch“, sagt sie. Warm rutscht es leichter. Sie streichelt seine Hand, „Na, Mister Oliver, geht’s uns gut?“

Michael Oliver, Jude, 1928 in Kaunas, Litauen, als Moses Olietzki geboren, Sohn eines Schneiders und einer Hausfrau. In der Schule nannten sie ihn nur Professor Paganell. „Geh zu Paganell“, hieß es, wenn es ein Problem in Mathe gab, der kann es lösen. Professor Jacques Paganel ist ein zerstreuter Gelehrter in einem Roman von Jules Verne, der zwei Kindern hilft, ihren verschollenen Vater wiederzufinden. Was sie von ihm haben, ist eine Flaschenpost mit dem Längengrad seines Aufenthaltsorts. Paganel reist mit den Kindern nach Osten, immer weiter, fast einmal um die Welt – um zu erkennen, dass der Vater ganz dicht neben ihnen gewesen war, im Westen. Das Gute liegt nahe. Aber Professor Paganel sucht es hinter dem Horizont.

„Irgendwo da draußen“, sagt Michael Oliver, „hinter der Sierra Nevada, weit hinter dem Lake Tahoe, irgendwo im Meer, werde ich meine Seacity bauen. Im Meer, weil alles Land schon besetzt ist.“


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 76. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 76

No. 76Oktober / November 2009

Von Dimitri Ladischensky und Jan Windszus

mare-Redakteur Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, und der Berliner Fotograf Jan Windszus, geboren 1976, hatten in Las Vegas nichtsahnend in einem Hotel namens „Hooters“ reserviert und waren irritiert, als sie von Damen in engen Shorts, Feinstrumpfhosen und tief ausgeschnittenem Tank-top auf ihre Zimmer geleitet wurden. „Hooters“ ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für weibliche Brüste – und Name einer leicht bekleideten Erlebnisgastronomiekette.

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Vita mare-Redakteur Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, und der Berliner Fotograf Jan Windszus, geboren 1976, hatten in Las Vegas nichtsahnend in einem Hotel namens „Hooters“ reserviert und waren irritiert, als sie von Damen in engen Shorts, Feinstrumpfhosen und tief ausgeschnittenem Tank-top auf ihre Zimmer geleitet wurden. „Hooters“ ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für weibliche Brüste – und Name einer leicht bekleideten Erlebnisgastronomiekette.
Person Von Dimitri Ladischensky und Jan Windszus
Vita mare-Redakteur Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, und der Berliner Fotograf Jan Windszus, geboren 1976, hatten in Las Vegas nichtsahnend in einem Hotel namens „Hooters“ reserviert und waren irritiert, als sie von Damen in engen Shorts, Feinstrumpfhosen und tief ausgeschnittenem Tank-top auf ihre Zimmer geleitet wurden. „Hooters“ ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für weibliche Brüste – und Name einer leicht bekleideten Erlebnisgastronomiekette.
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